Marco Ribeiro (18) wollte sich 2016 das Leben nehmen. Dreimal. Weil er das Mobbing nicht mehr aushielt. In der Schule wurde er jahrelang beleidigt, geschlagen, mit Steinen beworfen. Im Blick sprach der Bündner über seinen Leidensweg, um sich und anderen zu helfen. Und wühlte die Schweiz auf. Unzählige Menschen meldeten sich mit ihren Geschichten, die ähnlich dramatisch klingen wie jene des Polygrafen-Lehrlings. Eines haben viele gemeinsam: Die Erfahrungen werden sie ein Leben lang begleiten. Blick hat mit zwei Opfern gesprochen.
Bei Maria P.* (28) beginnt die Pein in der Primarschule im Kanton Graubünden. Da ist sie 13 Jahre alt. «Ich hatte gerade eine Zahnspange bekommen.» Aus Maria wird «Hasenzahn». Immer neue Beleidigungen folgen, immer mehr Schülerinnen und Schüler machen mit.
Tomatensauce und Apfelmus über dem Kopf
Einmal tritt das Mädchen in einem Theater auf, die ganze Schule schaut zu. Mitten im Stück ruft ein Junge eine Beleidigung, die Aula zieht mit. Maria erträgt die Schande nicht, springt von der Bühne, rennt nach Hause. Und lässt sich tagelang krankschreiben.
Weitere Übergriffe folgen, als Marias Klasse in einem Schullager im Tessin ist. In der zweiten Nacht muss sie die Lehrerin bitten, in einem anderen Haus, bei einer anderen Klasse, übernachten zu können. Zuvor hatten andere Schüler Tomatensauce und Apfelmus über die Jugendliche geschüttet und ihre Kleider zerstückelt. Die Lehrerin verbietet den Wechsel.
Am Schulhaus kommt sie nicht vorbei
Nicht das einzige Mal, dass die Aufsichtsperson kein Feingefühl zeigt. Einmal spricht die Lehrerin das Thema Mobbing vor der Klasse an, mit dem Ergebnis, dass Maria noch stärker geächtet wird.
15 Jahre später beschäftigen Maria die Vorfälle noch immer. Sie hat einen guten Abschluss gemacht, ist verheiratet und glücklich. Ausser, wenn sie an ihre Schulzeit denkt. Um über die Erlebnisse hinwegzukommen, begibt sie sich mit Anfang 20 in eine Therapie. Aber noch immer kann sie nicht an ihrem alten Schulhaus vorbeigehen. Wenn sie Teenager sieht, muss sie die Strassenseite wechseln. Und wenn jemand sie zum Spass auslacht, bekommt sie nach wie vor Panik.
«Die Lehrer sind in der Pflicht», sagt Maria. «Es gibt so viel Aufklärung zu Drogen oder Essstörungen, aber über Mobbing wird nie geredet.» Dadurch wüssten die Verantwortlichen nicht, wie sie reagieren müssten. Sie kann nicht verzeihen, dass ihre Lehrerin damals nicht helfen wollte oder konnte.
Pfarrer schlägt sie über das Pult
Die Schulzeit von Bettina Arpagaus (51) läuft ähnlich ab: «Die ersten sechs Jahre waren die Hölle!» Wenn andere Kinder auf dem Pausenplatz spielen, muss sie zuschauen. Wird sie beachtet, wird sie gehänselt. Später physisch angegangen. Niemand hilft. Das sei halt so gewesen damals, sagt Arpagaus. Es habe «Opfer in jeder Klasse» gegeben. Und auch Lehrer waren Täter. Sie erzählt von einem Religionslehrer («der damals ortsansässige Pfarrer»), der sie im Unterricht einst so heftig schlug, dass sie rücklings über das Pult fiel und drei Wochen Kieferschmerzen hatte.
Mittlerweile ist Arpagaus selber Mutter von drei Kindern, vor drei Jahren zog sie nach Disentis GR. Und musste feststellen: Die Mobbing-Situation ist nicht besser geworden. «Ab dem zweiten Tag wurde meine Tochter in der Primarschule gemobbt, weil sie nicht besonders gut Romanisch sprach. Vom Lehrer!», sagt Arpagaus. Der bringt das Mädchen vor der Klasse zum Weinen und macht sich auf Romanisch über sie lustig. Die Tochter, eine Asthmatikerin, leidet extrem. Weiht die Mutter ein. Die sucht das Gespräch, zuerst mit dem Lehrer, dann dem Schulleiter. Statt Hilfe kriegt sie zu hören: «Die Tochter ist verwöhnt!» – «Sie soll sich nicht so anstellen!» – «Der Lehrer ist super!»
«Wie eine Vase, die man nicht mehr flicken kann»
In Bettina Arpagaus kommen all die Gefühle aus der eigenen Vergangenheit hoch. All die Ungerechtigkeit, die sie erfuhr. Ihrer Tochter will sie das ersparen. Die ganze Familie zügelte erneut, nach nur drei Monaten. «Das war ein riesiger Stress, psychisch und finanziell», sagt Arpagaus heute. Doch es sei absolut der richtige Schritt gewesen. Ihre Tochter habe unbehelligt einen Neuanfang machen können, es gehe ihr heute blendend. In Disentis wäre das nicht mehr möglich gewesen. «Das habe ich aus meiner Vergangenheit gelernt. Als Mobbing-Opfer bist du wie eine beschädigte Vase, die man nicht mehr flicken kann. Die Narben sieht man immer und ewig.»
* Name geändert