Am Mittwoch sorgte ein Entscheid des Bundesgerichts für Aufsehen. Die Verurteilung einer Frau aus dem Kanton Solothurn wegen einfacher Verletzung wurde aufgehoben. Ein kurzer Blick auf ihr Handy hatte der Lenkerin zunächst eine Busse von 250 Franken beschert.
Dürfen Autofahrer jetzt also während der Fahrt entspannter aufs Handy schauen? So einfach ist es nicht, erklärt Hans Giger (93). Er leitet das Forschungsinstitut für Strassenverkehrsrecht und ist Chefredaktor der Zeitschrift «Strassenverkehr».
«Die Argumentation des Bundesgerichts ist nicht ungeschickt», sagt Giger zu Blick. Entscheidend sei, ob die Verkehrssituation weniger Aufmerksamkeit zugelassen habe oder nicht.
Faktor Zeit spielt eine Rolle
Er lobt die vom Gericht gewählten Vergleiche. Das Bundesgericht hatte angegeben, es sei zulässig, mit nur einer Hand am Steuer zu fahren, da mit der anderen Hand die Bedienung von Blinker oder dergleichen notwendig sein könne. Die Richter nannten weitere Situationen, wie beispielsweise das Halten eines Apfels, eines Taschentuchs oder einer Zigarette.
Ebenfalls sei laut Gericht der Blick aufs Handy auf Höhe des Lenkrades keine grössere Ablenkung als der Blick in den Rückspiegel, der in vielen Situationen vorgeschrieben sei.
Der Touring Club Schweiz (TCS) sieht die Vergleiche dagegen kritisch. «Die Verkehrssicherheit des TCS ist erstaunt über das Urteil des Bundesgerichts», heisst es auf Blick-Anfrage in einer Stellungnahme. Rückspiegel würden sichereres Fahren ermöglichen und seien «sehr wichtig, um das eigene Fahrverhalten anzupassen».
In diesem Sinne würden die Rückspiegel keine Ablenkung erzeugen, sondern das sichere Führen des Fahrzeugs verbessern. Mit Handys oder ähnlichen Geräten seien sie nicht gleichzusetzen. Vom Bundesamt für Strassen hiess es auf Anfrage lediglich, man kommentiere Gerichtsurteile nicht.
Giger hebt hervor, dass es bei dem Entscheid um einen sehr kurzen Zeitraum geht. Der Faktor Zeit spielt also eine grosse Rolle. «Wir sprechen über die Gesamtaufmerksamkeit für ein bis zwei Sekunden, nicht länger». Bei fünf Sekunden könne die Sache schon wieder ganz anders aussehen. Dann variiere der Tatbestand womöglich.
Wie aufmerksam sollte man fahren?
Giger betont, dass es sich bei der Entscheidung im Fall der Solothurnerin um einen Einzelfall handelt. Ältere Entscheide seien auch schon strenger ausgefallen. Heisst: Für alle Autofahrer ändert sich erstmal nichts, entschieden wird weiter von Fall zu Fall.
Bei Verkehrsverstössen müssten weitere Faktoren bedacht werden, zum Beispiel die Geschwindigkeit des Fahrzeugs und der anderen Verkehrsteilnehmer. «Bei hohen Geschwindigkeiten sollte man den Blick auf das Handy lieber sein lassen», rät Giger. Dass Autofahrer verbotenerweise telefonieren, beobachtet der Verkehrsrechtsexperte bei seinen eigenen Fahrten von Winterthur nach Zürich immer wieder – selbst auf der Autobahn.
Er sorgt sich um die Wirkung, die vom Entscheid ausgehen könnte. «Es ist gefährlich im Hinblick auf die Prophylaxe», warnt er. Gemeint ist, dass viele Autofahrer den Entscheid simplifizieren und jetzt glauben könnten, sie könnten problemlos jederzeit auf das Handy schauen oder gar telefonieren. Das ist nicht der Fall.
Solothurner Justiz soll erneut entscheiden
Was die Gerichte in der Schweiz beschäftigt
Der Entscheid ist «kein totaler Freibrief», macht der Experte deutlich. Er bleibt beim Praxisbeispiel: der Strecke von Winterthur nach Zürich. «Hier würde es in einem solchen Fall keinen Freispruch geben. Der Verkehr ist pausenlos», ist sich Giger sicher.
Das Bundesgericht hat den Fall an die Solothurner Justiz zurückgegeben – und so eine juristische Hintertür geöffnet. Nun wird geprüft, ob allenfalls das Ordnungsbussenverfahren zur Anwendung gelangt.
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