Gaetano Cangeri (21) aus Laufenburg AG hatte Träume. Er wollte frei und selbstständig sein – etwa aus dem Elternhaus ausziehen, mit einem Freund eine WG gründen und eine Weiterbildung beginnen. Doch eine Bronchitis im Herbst 2020 – ausgelöst durch einen viralen Infekt – veränderte alles. Sein Körper schien den Takt verloren zu haben. Seither fühlt sich Cangeri ständig krank, ist rasch erschöpft. Seine Träume musste er im Alter von 18 Jahren aufgeben. Was ihm fehlt, fand lange kein Arzt heraus. Bis eine Spezialistin aus Zürich einen schlimmen Verdacht bestätigt.
Heute weiss Cangeri: Er hat das chronische Erschöpfungssyndrom – oder auch ME/CFS genannt. Die Krankheit bestimmt sein Leben. Den Haushalt alleine schmeissen, einer Arbeit nachgehen oder mit Freunden etwas unternehmen? für Cangeri undenkbar. «An einem guten Tag kann ich sieben, acht Minuten laufen», sagt er zu Blick. «Ich bin zwar erst 21, fühle mich aber wie ein Opa im Pflegeheim.»
Beginn einer Odyssee
Nach jeglicher Anstrengung rebelliert sein Körper noch tagelang. Schmerzen und eine tiefe Erschöpfung sind die Antwort auf jede Aktivität. «In solchen Situationen werde ich wütend. Ich meine: Gopf, eigentlich sollte das Leben doch jetzt erst richtig beginnen», sagt der gelernte Detailhandelsassistent. «Stattdessen bin ich bei fast allem auf die Hilfe von anderen angewiesen.»
Rückblick: Weil er sich nach einer Bronchitis nicht zu erholen scheint, wird Cangeri von Arzt zu Arzt weitergereicht. Niemand findet die Ursache für sein Leiden. Dann stellt ein Kardiologe eine Herzrhythmusstörung fest. Eine mögliche Erklärung für seine Abgeschlagenheit. Cangeri wird deshalb im Dezember 2020 am Herzen operiert. Doch eine Besserung bleibt auch nach dem Eingriff aus. Cangeri stand wieder am Anfang: «Es war wie ein Schlag ins Gesicht.»
Also suchen die Ärzte weiter. «Über ein Jahr lang habe ich die ganze Bandbreite an möglichen Ärzten aufgesucht», sagt der junge Mann. «Irgendwann äusserte eine Endokrinologin, eine Expertin für hormonproduzierende Drüsen, den Verdacht, dass es das Erschöpfungssyndrom sein könnte.» Eine Spezialistin aus Zürich, die ein Kompetenzzentrum für ME/CFS betreibt, bestätigt dies schliesslich. Dabei wurde die Analyse im IMD Labor Berlin in Deutschland gemacht, ein Labor für medizinische Diagnostik.
Langfristige Therapie
Das Resultat löst bei Cangeri gemischte Gefühle aus: «Endlich hatte ich Klarheit. Gleichzeitig war mir bewusst, dass es keine eigentliche Behandlung dagegen gibt.» Die Expertin empfiehlt eine Lebensstiländerung und eine Mikronährstofftherapie. Sie erklärt aber auch: «Die Therapie wird sicher längere Zeit dauern, bis sich ein Erfolg einstellen kann.»
Für Cangeri bedeutet das, jeden Tag eine Handvoll Tabletten – wie etwa Vitamine und Mineralstoffe – zu sich nehmen, und wöchentliche Infusionen. Gleichzeitig muss er auf viele Lebensmittel verzichten. Auch, weil weitere Erkrankungen – wie etwa Entzündungen im Körper und eine Schwächung der Darmwand – festgestellt werden.
Durch Tipps in einem Forum für Betroffene testet Cangeri auch andere Therapie-Möglichkeiten, wie etwa IHHT – eine Sauerstofftherapie. Noch hat sich aber keine wirkliche Besserung eingestellt.
Welche Folgen das chronische Erschöpfungssyndrom haben kann, machte Daniela Caviglia (†56) öffentlich. Die ehemalige Chefredaktorin von zwei Fachzeitschriften nannte ihr Gebrechen die «Krankheit der Tausend Tode». Nachdem sie an Corona erkrankt war, blieb von ihrem früheren Leben nichts mehr übrig. Schliesslich wählte die 56-Jährige den Freitod.
Über 30'000 Franken gesammelt
Cangeri kämpft jedoch weiter: «Die IV anerkennt die Krankheit nicht und hat mich deshalb abgelehnt. Also lebe ich momentan von der Sozialhilfe», sagt er. «Und weil die Krankenkasse meine alternative Therapie nicht übernimmt, kommen monatlich Kosten von 1000 bis 2000 Franken auf mich zu.»
Zwar erhalte er finanzielle Unterstützung durch seine Eltern. Doch auch sie können die anstehenden Kosten nicht langfristig tragen. Also hat die Familie eine Gofundme-Kampagne gestartet. Es sind in rund zwei Monaten über 30 000 Franken zusammengekommen. «Ich bin all diesen Leuten so dankbar! Damit kann ich meine Therapien eine Zeit lang weiterführen – ohne, dass ich meinen Eltern oder sonst jemandem auf der Tasche liege.» Ausserdem will Cangeri mit einer Anwältin gegen den IV-Entscheid vorgehen.
Ob der Schweiz-Italiener je ein normales Leben führen wird, ist unklar. Sein grösster Wunsch: «Ich möchte einfach mein altes Leben wieder zurück.» Doch das ist nicht so einfach, den Takt gibt sein Körper vor.