Das Couvert, das Nina Brunner von der Sozialversicherungsanstalt (SVA) des Kantons Aargau erhielt, war dicker, als es hätte sein sollen. Brunner bekommt öfters Post von der SVA, weil sie ein Anliegen ihres Vaters vertritt – doch mit ihm hatte das 50-seitige Dossier, das in einem blauen Mäppli steckte, nichts zu tun. Vielmehr: Es enthielt sensible Daten einer fremden Person. Bei den Unterlagen handelte es sich mehrheitlich um Quittungen und Belege für Rückforderungen über einige Tausend Franken. Sie erlauben Rückschlüsse auf Arztbesuche, Medikamentenbezüge oder Aufenthaltsorte der besagten Frau. Dazu ihre AHV-Nummer und die vollständige Anschrift. Ein halber Lebenslauf an die falsche Adresse.
Damit nicht genug. Im gleichen Couvert fanden sich Formulare mit Personendaten einer weiteren Frau, wiederum inklusive AHV-Nummer und Wohnadresse.
Eine Verwechslung kanns nicht sein
Die beiden Personen, für die die Post der SVA eigentlich bestimmt war, leben an verschiedenen Orten im Aargau. Ebenso sind ihre Namen komplett unterschiedlich und ähneln auch nicht jenem der Brunners. Eine blosse Verwechslung scheint somit ausgeschlossen.
Nina Brunner ist konsterniert: «Es ist höchst bedenklich und fahrlässig, wie eine kantonale Stelle mit derart heiklen Daten umgeht.» Und das erst noch in einem sensiblen Bereich wie den Sozialversicherungen, sagt sie zum Beobachter.
«Geringe» Fehlerquote
Brunner heisst in Wirklichkeit anders, aber sie möchte mit ihrem echten Namen nicht in Verbindung mit einer gravierenden Datenschutzverletzung gebracht werden. Dabei hat sie richtig reagiert: den Fall umgehend bei der SVA gemeldet und eine Stellungnahme verlangt.
Das tat auch der Beobachter. Gemäss Sprecherin Linda Keller ist der zweifache Irrläufer «auf den Fehler einer Mitarbeiterin beim Verpacken der Post zurückzuführen». Pro Jahr verschicke die SVA Aargau 1,5 Millionen Briefe. Zu 80 Prozent geschehe dies automatisiert, der Rest werde manuell verarbeitet, so Keller. «Dabei können trotz aller Sorgfalt Fehler passieren.» Die Erfahrung zeige aber, dass der Anteil von Falschsendungen am gesamten Postvolumen «gering» sei.
Heisst im Umkehrschluss: Sie kommen trotzdem vor. Im Februar schilderte die NZZ einen Fall aus dem Kanton Zürich. Dort hatte die SVA Personendaten versehentlich an einen Namensvetter des rechtmässigen Adressaten geschickt. Die Analyse der Verantwortlichen war identisch: ein Einzelfall – verursacht durch einen Menschen, dem schwächsten, weil fehleranfälligen Teil des Systems.
Liegts am System?
Haben die Sozialversicherungsanstalten deswegen ein Datenschutzproblem? An Zahlen festmachen lässt sich das nicht. Laut Privatim, Dachorganisation der Datenschutzbeauftragten der Kantone, gibt es keine flächendeckende Meldepflicht für solche Fälle. Daher existiere keine aussagekräftige Übersicht.
Auch bei der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen, bei denen die Durchführung der Sozialversicherungen angesiedelt ist, will man nicht von einem systemischen Problem sprechen. Andreas Dummermuth, Präsident der Konferenz, verweist gegenüber dem Beobachter allerdings darauf, dass die Rahmenbedingungen besser sein könnten, um «eines der grössten Massengeschäfte der Schweiz» sicherer abzuwickeln.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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So wird erst ab 2025 ein nationaler Adressdienst eingeführt. Damit soll der Anteil manueller Arbeit beim Übertragen oder Mutieren von Adressen reduziert werden. Hinzu kommt ein veraltetes Bundesgesetz im Sozialversicherungsrecht. Es schreibt vor, dass ein Grossteil der Dokumente den Versicherten in Papierform zugestellt werden muss. Für Dummermuth eine unnötige Fehlerquelle: «Wir wären bereit für mehr Automatisierung und Digitalisierung, aber das Gesetz hindert uns!» Zwei im letzten Herbst im Parlament eingereichte Motionen sollen Abhilfe schaffen.
Empfängerin soll Dokumente vernichten
Derweil ist man bei der Aargauer SVA daran, den Vorfall mit dem doppelten Irrläufer aufzuarbeiten. Nina Brunner, die falsche Empfängerin, irritiert in diesem Zusammenhang, dass sie als eigentlich Unbeteiligte plötzlich zur Akteurin werden soll. Die Aufforderung der involvierten SVA-Mitarbeiterin war jedenfalls klar: «Darf ich Sie bitten, die Sendungen zu vernichten?»
Dafür fehlt Brunner jedes Verständnis. «Wer soll das denn kontrollieren?», fragt sie. «Man kann solch sensible Daten doch nicht einfach aus der Hand geben.» Zumal das 50-Seiten-Dossier Originaldokumente enthalte, die der Besitzerin fehlen könnten. Nina Brunner hat deshalb alle Unterlagen von sich aus an die SVA retourniert.