Die Pilotstudie der Uni Zürich ist erschreckend: Bei der katholischen Kirche in der Schweiz hat es zwischen 1950 und heute mindestens 1002 Fälle sexuellen Missbrauchs gegeben. Die Dunkelziffer ist hoch. Und: Es wurden Akten vernichtet und Fälle vertuscht. Im Fokus: zahlreiche Würdenträger. Zwei Historikerinnen sagten: «Bei den identifizierten Fällen handelt es sich zweifellos nur um die Spitze des Eisbergs.»
Inzwischen wird gegen mehrere Bischöfe ermittelt. Auch Staatsanwaltschaften mehrerer Kantone interessieren sich für die Fälle. Und: Der Kirchenrat von Adligenswil LU hat entschieden, das Bistum Basel vorläufig nicht mehr mit Kirchensteuern zu beliefern.
Reden hilft nicht mehr
«Das ist genau der richtige Weg. Reden hilft jetzt nicht mehr», sagt der reformierte Pfarrer Josef Hochstrasser (76) zu Blick. «Die Basis und die Kirchgemeinden müssen handeln und auch den Mut haben, das Zölibat zu brechen und eisern hinter ihren Pfarrern und Priestern zu stehen. Auch, wenn sie zum Beispiel homosexuell sind oder heiraten wollen.» Es müsse jetzt an all die Opfer gedacht werden. «Ansonsten gibt es auch in den nächsten Jahrzehnten solche Übergriffe.»
Hochstrasser weiss, wovon er spricht. In Ebikon LU aufgewachsen und als Bub von Kirchenfesten fasziniert, studierte er später Theologie und wurde Schweizergardist in Rom. 1973 wurde er zum katholischen Priester geweiht. Ein Jahr später lernte er die Religionslehrerin Elisabeth (heute 74) kennen. Am 31. Dezember 1976 heiratete er sie. Nur: «Zuvor bat mich der damalige Bischof händeringend, dies nicht zu tun», erinnert er sich. Dieser habe ihm gar versichert: «Haben Sie noch etwas Geduld, das Zölibat wird bald fallen!» Es blieb ein leeres Versprechen.
Hochstrasser ging seinen eigenen Weg
Deshalb ging Hochstrasser nach seinem 1985 erteilten Berufsverbot seinen eigenen Weg. «Einen glücklichen», sagt er heute. «Auch dank meiner Frau, die hinter mir stand.» Er trat aus der katholischen Kirche aus und studierte in Bern evangelische Theologie. «Seit 1989 bin ich reformierter Pfarrer.» Danach sei er unter anderem als Religionslehrer an der Kantonsschule Zug tätig gewesen. Auch heute noch sei er unter anderem als Pfarrer in Steinhausen ZG im Einsatz. Und: Er ist immer noch mit seiner Frau zusammen, wohnt mit ihr seit 1982 in einem Haus in Oberentfelden AG.
Immer wieder verlangte Hochstrasser öffentlich die Abschaffung des Zölibats. Jetzt umso mehr: «Es gehört nicht zum zentralen, christlichen Glaubensgut. Jesus hat es nicht verordnet.»
Auflösung des Zölibats allein genügt nicht
Wie könnte das kirchliche Gesetz fallen? Hochstrasser: «Das Zölibat wird nicht von den Oberen der Hierarchie aufgelöst.» Es brauche dazu die erwähnte Basis. Konkret: «Eine Kirchgemeinde soll ihren zum Beispiel heiratswilligen Priester weiter mit sämtlichen Kompetenzen als ihren Pfarrer anerkennen. So wird die Macht der Hierarchie gebrochen.»
Er weiss aber auch: Die Auflösung des Pflichtzölibats allein genüge nicht, Missbräuche zu verhindern. «Selbst die vollkommen berechtigte Forderung der Frauen, Priesterinnen werden zu dürfen, wird das wackelnde Fundament der katholischen Hierarchie nicht zum Einsturz bringen.»
Hierarchien müssen zu Grabe getragen werden
Strukturen kommen zu Fall, wenn sich niemand mehr ihrer bedient, sagt Hochstrasser weiter. Konkret? «Das Amt des Priesters muss seiner weihrauchgeschwängerten, völlig überhöhten Bedeutung entrissen werden.» Auch eine zukünftige Priesterin sollte künftig genauso wichtig sein wie eine Sozialarbeiterin.
Dann erklärt Hochstrasser: «Vorbild für eine solche Kirche sind die ersten Christengemeinden, die von den verschiedenen Begabungen ihrer Mitglieder lebten und nicht nur von einer einzigen, historisch mehr und mehr zur Machtstellung aufgestiegenen Hierarchen-Clique.» Diese müsse zu Grabe getragen werden. «Erst dann können sexuelle Missbräuche nicht mehr gedeckt werden.»
Acht Bücher geschrieben und grosser YB-Fan
Woher nimmt Hochstrasser die jahrelange Kampfkraft gegen die katholische Kirche? «Von Jesus, meiner Frau, meiner Liebe zum Fussball und dem Schreiben.» Er hat sieben Bücher über die Kirche veröffentlicht – und eine Biografie über die Fussball-Legende Ottmar Hitzfeld. «Als er Trainer beim FC Aarau war, kam er als Gast in meinen Gottesdienst», sagt YB-Fan Hochstrasser. «Hitzfeld fand meine Predigt ausserordentlich und lud mich zum Nachtessen ein. Dann kam eins zum anderen.»
Eins zum anderen dürften auch die Ermittlungen führen. Einziges Problem: Die meisten Missbrauchsfälle dürften verjährt sein. Hochstrasser: «So könnten die Priester weiterhin heilige Figuren bleiben und die Bischöfe wieder mal alles aussitzen – wenn jetzt nicht endlich mutig gehandelt wird!»
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