Es ist in der Schweiz eine heilige Kuh wie das Bankgeheimnis, der Föderalismus und die direkte Demokratie: das duale Bildungssystem. Wer die Berufslehre infrage stellt, bewegt sich in der Nähe des Landesverrats.
Nichtsdestotrotz: In den vergangenen Jahren hat die Lehre an Bedeutung verloren. Die Zahl der Jugendlichen, die sich fürs Gymnasium entscheiden, ist deutlich gestiegen. Nun zeigen neue Zahlen des Bundesamts für Statistik: Wer «nur» einen Lehrabschluss hat, gehörte 2020 erstmals einer Minderheit an.
Folgen des technologischen Fortschritts
Von den 25- bis 64-Jährigen haben mittlerweile 45,3 Prozent einen Bildungsabschluss auf Tertiärstufe – will heissen: höhere Berufsbildung, Fachhochschul- oder Universitätsabschluss. Eine Lehre als letzten Bildungsgrad weisen derweil bloss 44 Prozent der arbeitstätigen Bevölkerung aus. Vor zwanzig Jahren waren es noch beinahe 60 Prozent.
Aber woran liegt das? Marco Salvi (52) von der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse sieht die Entwicklung als Folge des technischen Fortschritts und der internationalen Arbeitsteilung: «Komplexere Maschinen verlangen höhere Qualifikationen, während viele einfache Tätigkeiten entweder automatisiert oder ausgelagert wurden.»
George Sheldon (73), Arbeitsmarktökonom an der Universität Basel, hebt einen anderen Aspekt hervor: die Zuwanderung. «Bis 1990 hat die Schweiz grossmehrheitlich ausländische Arbeitskräfte rekrutiert, die keine Berufsausbildung hatten.»
Klassische Berufe verlieren weiter an Bedeutung
In den vergangenen Jahrzehnten habe sich das massiv verändert. «Heute kommen aus dem Ausland vorwiegend topausgebildete Leute in die Schweiz, die vor allem mathematische, naturwissenschaftliche und technische Abschlüsse aufweisen.» Schweizer Jugendliche machten derweil eher ein Phil-I-Studium, so Sheldon. «Da wird teilweise am Arbeitsmarkt vorbei ausgebildet.»
Weil der Dienstleistungssektor überproportional stark wächst, geht Sheldon davon aus, dass die klassische Berufslehre weiter an Bedeutung verlieren wird. Davor brauche sich die Schweiz aber nicht zu fürchten. «Heute entscheiden sich hierzulande 55 bis 60 Prozent der Jugendlichen für eine Berufslehre, in Deutschland sind es 40 bis 45 Prozent – und trotzdem ist die deutsche Wirtschaft stark und der Arbeitsmarkt stabil.»
Der Fachhochschule geht meist eine Lehre voraus
Rudolf Strahm (77), ehemaliger Preisüberwacher, Sozialdemokrat und erfahrener Bildungsexperte, interpretiert die Zahlen etwas anders. Von einem «Land von Studierten» will er nichts wissen. «Diese Aussage muss man relativieren.»
Der Grund: Wer eine höhere Berufsbildung oder eine Fachhochschule abschliesse, habe in der Regel zuvor eine Lehre absolviert. In der Statistik rangiere diese Gruppe aber nur auf Tertiärstufe. «Die Lehre hat über die letzten Jahre und Jahrzehnte zwar leicht Anteile verloren, aber keineswegs so deutlich, wie es die Zahlen auf den ersten Blick vermuten lassen.»
Strahm ist überzeugt, dass das duale Bildungssystem – also die Kombination von Ausbildung im Betrieb und in der Berufsfachschule – auch in 20 Jahren noch eine hohe Bedeutung haben wird. «Menschen mit einer Berufsbildung und Weiterbildung sind auf dem Schweizer Arbeitsmarkt stark gefragt, oft sogar stärker gefragt als Uni-Abgänger.»
So bezögen zum Beispiel Absolventen der Hochschulen der Künste oder der Unis im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften nach ihrem Studienabschluss oft prekäre Löhne oder fänden jahrelang keine feste Anstellung.
Bildungssystem ist genau richtig
Ähnliches weiss Christine Davatz (63) zu berichten. Die Bildungsverantwortliche des Schweizerischen Gewerbeverbands ist überzeugt, dass das schweizerische Bildungssystem – insbesondere das duale Berufsbildungssystem – für die Schweiz genau richtig ist: «Der Arbeitsmarkt kann so auf gut ausgebildete Fachleute und Spezialisten zurückgreifen und gleichzeitig können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Forschung weitertreiben.»
Der Gewerbeverband will daher alles daran setzen, dass es das duale Berufsbildungssystem auch in 20 Jahren noch gibt. Davatz: «Dass die Betriebe Lernende ausbilden und sich über Berufsverbände für ihren Berufsnachwuchs und entsprechende berufliche Aus- und Weiterbildung einsetzen, ist ein immenser Vorteil, den wir nicht preisgeben dürfen.» Nicht zuletzt die geringe Jugendarbeitslosigkeit spreche für sich.
Wichtiger Pfeiler ist die Durchlässigkeit
Der Bund teilt diese Überzeugung. «Die berufliche Grundbildung ist auch in Zukunft ein attraktiver Einstieg in die Berufswelt und bietet vielfältige Karriereperspektiven», sagt Martin Fischer, Kommunikationschef beim Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation.
Das Bildungssystem der Schweiz diene den Interessen der Menschen und ebenso den Bedürfnissen des sich wandelnden Arbeitsmarkts. Ein wichtiger Pfeiler dieses Systems sei insbesondere die hohe Durchlässigkeit – also die Tatsache, dass der Weg an eine Fachhochschule oder Universität auch nach einer Lehre noch problemlos möglich ist.
Revolutionäre Änderungen sind nicht geplant – und werden auch von niemandem gefordert.
In einem Punkt jedoch sind sich sämtliche von SonntagsBlick befragten Experten einig: Eine Lehre alleine reicht heute in der Regel nicht mehr aus, um ein Leben lang einen attraktiven und anständig bezahlten Job zu haben. Wer beruflich weiterkommen wolle, tue gut daran, nach der Lehre eine höhere Berufsbildung oder eine Fachhochschule anzuhängen.