Wenn M.N.*(21) an ihre Ausbildung zur Detailhandelsfachfrau zurückdenkt, kommen schlimme Erinnerungen hoch. «Meine Lehre im Elektrogeschäft hat mich traumatisiert», sagt sie. «Ich wurde sexualisiert, beleidigt und gemobbt.» N. war damals 16 Jahre alt. Bis heute habe sie psychische Schäden aus dieser Zeit.
Der Albtraum begann etwa zwei Monate nach Beginn ihrer Ausbildung, als N. im Lehrbetrieb ein Handy inklusive Panzerglas kaufte. Es gab ein Missverständnis mit dem Rechnungsbeleg, und die Vorgesetzten beschuldigten die junge Frau, geklaut zu haben. «Die Situation hat mich so aufgewühlt, dass ich in Tränen ausbrach», sagt N. «Daraufhin lachten sie mich aus.»
Obwohl die Abrechnung an der Kasse für sie sprach, war das Vertrauen von da an beidseitig verschwunden. Der Chef rief N. wegen kleiner Fehler ständig ins Büro und beschimpfte sie als dumm und unfähig. «Einmal sagte er, ich solle meinen fetten Arsch bewegen.»
Jede dritte Person fühlt sich unwohl wegen Mobbing
Was die junge Frau in ihrem Ausbildungsbetrieb erlebt hat, ist kein Einzelfall. Das belegt eine Umfrage der Gewerkschaft Unia aus dem Jahr 2019 mit 812 Lernenden aus der ganzen Schweiz. 33 Prozent der Befragten wurden am Arbeitsplatz sexuell belästigt, und fast jede dritte Person fühlte sich im Arbeitsumfeld schon einmal unwohl wegen Mobbing. Zum Vergleich: Jedes Jahr beginnen rund 76'000 Jugendliche eine Lehre.
Philipp Zimmermann (35), Mediensprecher der Unia, sagt: «Viele Fälle werden gar nicht gemeldet und erfasst.» Insbesondere in Betrieben, in denen eine Kultur vorherrsche, die «leichtere» Formen von Belästigung wie etwa anzügliche Sprüche toleriere, sei die Hemmschwelle oft hoch, sich dagegen zu wehren. «Unsere Umfrage zeigt, dass viele Jugendliche mit Belästigungen in Lehrbetrieben konfrontiert sind – es ist kein Nischenproblem», sagt er. Deshalb sei es wichtig, das Problem zu thematisieren und die Betriebe zu sensibilisieren.
Ob die Fälle in den letzten Jahren zu- oder abgenommen haben, ist schwierig zu beantworten. Es gibt keine nationalen Statistiken und die meisten kantonalen Berufsbildungsämter schreiben auf Anfrage von Blick, sie würden keine offiziellen Zahlen dazu erheben. Das Berufsinspektorat des Kantons Aargau gibt an, mit einem Fünftel der über 16'000 Lernenden im Aargau einmal während der Ausbildung Kontakt zu haben. Kommunikationsleiterin Simone Larcher sagt: «Oftmals sind es ‹nur› telefonische Anfragen, die direkt beantwortet werden können.»
«Es wurde nichts unternommen»
Auch N. meldete sich nach der verbalen Belästigung ihres Chefs beim zuständigen Berufsbildungsamt. «Sie versicherten mir, dass alles anonym bleibt, aber dem war nicht so», sagt sie. «Sie führten ein Gespräch mit mir und meinen Vorgesetzten.» Die Berufsinspektorin sei auf ihrer Seite gewesen, was ihren Chef verärgert habe. Die beiden gerieten in eine hitzige Diskussion. «Er liess sie sein aggressives Verhalten spüren, und dennoch wurde weiter nichts unternommen.»
Nach dem Termin sollte N. der Berufsinspektorin mitteilen, ob sich die Situation verbessert oder verschlechtert habe. Letzteres traf zu. «Mein Chef machte deutlich, dass ihm mein Gewichtsverlust gefällt», so N. «Er fragte sogar, ob ich nicht einmal einen Penis bräuchte, da ich mit einer Frau zusammen bin.» Sie rief erneut beim Berufsbildungsamt an. Deren Antwort war: «Ihre Lehre dauert nur noch ein Jahr. Ziehen Sie das Ganze einfach schweigend durch.»
Betroffene können ihrer Wahrnehmung trauen
Agota Lavoyer (41), Expertin für sexualisierte Gewalt und Opferberatung, kritisiert das Verhalten der Lehraufsicht. «Die Reaktion und die unterlassene Hilfeleistung sind unentschuldbar», sagt sie. Zudem habe der Arbeitgeber seine Pflicht, die Mitarbeiterin aktiv vor sexualisierter Belästigung zu schützen und dem Vorfall ein Ende zu setzen, sträflich vernachlässigt. Die Fürsorgepflicht sei bei Lernenden besonders hoch.
Das besagte Berufsbildungsamt des Kantons Zürich nimmt zu diesen Vorwürfen wie folgt Stellung: «Das Mittelschul- und Berufsbildungsamt (MBA) kann zu konkreten Einzelfällen keine Auskunft erteilen. Das Ziel der Berufsinspektorinnen und Berufsinspektoren ist, dass bei Herausforderungen und Problemen die Betroffenen begleitet und gangbare Lösungen für alle gefunden werden.»
Gemäss Lavoyer können Betroffene sich neben dem Berufsbildungsamt auch an die Opferhilfestelle oder an das Gleichstellungsbüro des Kantons wenden. Wichtig sei, dass sie wüssten, dass sie ihrer Wahrnehmung trauen könnten und dass sexuelle Belästigung nie in Ordnung sei.