Das Bundesgericht hat anhand von zwei Fällen aus den Kantonen Zürich und Basel-Landschaft entschieden, dass das heimliche und vereinbarungswidrige Abstreifen eines Kondoms während des Geschlechtsverkehrs nicht unter den Straftatbestand der Schändung fällt. Andernfalls würde das heutige Recht in unzulässig ausgedehnter Weise interpretiert.
In beiden Fällen waren die Staatsanwaltschaften gegen die vorinstanzlichen Freisprüche aus dem Jahr 2019 ans Bundesgericht gelangt. Die Basellandschaftliche Strafverfolgungsbehörde argumentierte, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung schütze die Freiheit einer Person darüber zu entscheiden, ob, wann, wo, mit wem und auf welche Weise sie sich an sexuellen Handlungen beteiligen möchte.
Das Vergehen heisst Stealthing
Das heimliche Abstreifen eines Kondoms - Stealthing genannt - verletzte dieses Recht. Stealthing sei als Verletzung der persönlichen Würde zu verstehen. Zudem unterscheide sich die Intensität des Sexualkontakts beim ungeschützten Geschlechtsverkehrs wesentlich von derjenigen beim geschützten Kontakt, führte die Staatsanwaltschaft aus. Dies geht aus dem am Donnerstag veröffentlichten Urteil des Bundesgerichts hervor.
Die Staatsanwaltschaft ist entgegen der kantonalen Vorinstanz der Ansicht, man könne in Stealthing-Fällen nicht von einer Einwilligung in den Geschlechtsverkehr ausgehen, wenn zuvor vereinbart wurde, ein Kondom zu benützen. Es gebe keine grundsätzliche Einwilligung für alle infrage kommenden sexuellen Handlungen. Wer nur einer Penetration mit Kondom zustimme, habe nie in eine solche ohne eingewilligt. Es liege also nicht eine bedingte Einwilligung vor, sondern eben gar keine.
Keine Schändung, weil Sex-Partner Widerstand leisten könnte
Das Bundesgericht hält in seinen Ausführungen fest, Stealthing beeinträchtige die individuelle sexuelle Autonomie und Integrität. Für eine betroffene Person könne die Ablehnung von ungeschütztem Geschlechtsverkehr eine wesentliche Bedingung für den Sexualkontakt sein. Werde das Kondom heimlich abgestreift, habe die getäuschte Person keine Möglichkeit mehr, den Kontakt so zu gestalten, wie sie es wolle.
Mit dem Abstreifen ende der bisher einvernehmliche Sex, und es beginne eine neue sexuelle Handlung im Sinne des Straftatbestandes der Schändung. Jedoch fehlt laut Bundesgericht das bei der Schändung laut Gesetz erforderliche Tatbestandsmerkmal der Widerstandsunfähigkeit des Opfers. Dabei kann es sich um eine dauerhafte Eigenschaft einer Person handeln oder lediglich um eine temporäre Beeinträchtigung wie beispielsweise ein Rausch.
Diese fehlende Abwehrfähigkeit muss gemäss den Lausanner Richtern unabhängig von den konkreten Umständen des Sexualkontakts bestehen. Durch die Täuschung werde der betroffenen Person zwar die Möglichkeit genommen, zu reagieren. Die Fähigkeit zur Abwehr bleibe jedoch vorhanden.
Gericht entschied nicht über sexuelle Belästigung
In beiden Fällen müssen die kantonalen Gerichte jedoch noch prüfen, ob der Straftatbestand der sexuellen Belästigung erfüllt ist. Nicht zu beurteilen hatte das Bundesgericht vorliegend, die Verbreitung menschlicher Krankheiten oder allenfalls eine versuchte Körperverletzung. Diesen beiden Straftatbestände könnten bei Stealthing unter Umständen zum Zug kommen.
In den vorliegenden Urteilen schreibt das Bundesgericht, dass auch die aktuelle Revision des Sexualstrafrechts dagegen spreche, Stealthing unter geltendem Recht als Schändung zu beurteilen. Täte es dies, würde es gemäss seinen Erwägungen eine vom Gesetzgeber formulierte Bestimmung nicht nur auslegen, sondern den derzeit geltenden Umfang des strafrechtlichen Schutzes ausweiten.
Laut dem Vorschlag der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates sollen zukünftig Stealthing und überraschend vorgenommene sexuelle Handlungen unter die neuen Grundtatbestände des sexuellen Übergriffs beziehungsweise der Vergewaltigung fallen.
Die Beachtung der von der Schweiz unterzeichneten Istanbul-Konvention führt laut Bundesgericht ebenfalls nicht zu einem anderen Ergebnis. Die völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt könne die Auslegung von geltendem Recht zwar beeinflussen. Dies dürfe aber nicht so weit gehen, dass Lücken bei der Strafbarkeit geschlossen würden. (SDA)