Als der Arzt die Worte ausspricht, ist Anne Estermanns (37) Leben nicht mehr dasselbe. Und wird es nie mehr sein. «Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen: Sie haben einen Hirntumor.»
Sie ist verheiratet, Mama einer siebenjährigen Tochter. Die junge Frau steht in einem weissen Raum eines Luzerner Röntgeninstituts. Um sie herum: drei Bildschirme mit Abbildungen ihres Gehirns. «Ich sehe dieses kleine, weisse Objekt, das da nicht hingehört», erinnert sie sich.
Über ein Jahr brauchten die Ärzte, um herauszufinden, was Anne fehlt. Ein Jahr lang ist sie häufig krank. Hat Fieber. Immer öfter ist ihr schlecht. Anne klagt über Nackenschmerzen. Die Ärzte, die sie konsultiert, schlagen vor, sie solle ihre Matratze austauschen. Vielleicht ein neues Kissen kaufen. Das tut Anne. Natürlich ohne Besserung der Symptome in ihrem Kopf.
«Wie sagt man das der Familie?»
«Ich bin überall reingelaufen. Obwohl da genug Platz war», erinnert sie sich. Gegen ihren Mann, gegen fremde Menschen, gegen Gegenstände. Sie denkt sich nichts dabei. Ein paar kleine Koordinationsschwierigkeiten eben. «Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass etwas mit meinem Gehirn sein könnte. Ich male nie den Teufel an die Wand.» Plötzlich hört sie auf dem rechten Ohr nichts mehr. Dann geht sie zum Ohrenarzt. Der schickt sie zum MRT – zur Sicherheit.
Dann die einschlagenden Worte des Radiologen an die junge Mutter. Anne fragt: «Wie kam der Tumor dorthin, und wie kriege ich den wieder weg?» Antwort: Man muss ihren Kopf aufschneiden. Der Gedanke Estermanns wandert zu ihren Liebsten. Zur Tochter, zu ihrem Mann, zu ihren Eltern. «Wie sagt man das seiner Familie, ohne dass es nach Tod, Sterben und Verderben klingt?»
Der Tumor ist weg, Annes Gesicht ist gelähmt
Nach einem über 12-monatigen Ärzte-Marathon beginnt ein Sprint. Der Tumor soll, so schnell es geht, entfernt werden. Angst lässt Anne nicht aufkommen. Für sie ist klar: «Es gibt keine andere Option, ich komme wieder. Ich muss mich um mein Kind kümmern.» Kurz vor der OP laufen ihr Tränen übers Gesicht. Sie schliesst ihre Augen, denkt an ihre Tochter. Sie öffnet die Augen nach der OP und tut dasselbe.
Der Tumor ist entfernt. Doch Anne bekommt Fieber. Eine Komplikation, die nach einer solchen Operation auftreten kann. «Der Tumor lag nah am Gesichtsnerv. Der hat sich wohl entzündet», sagt Estermann. Die Folge: Das Gesicht der jungen Mutter ist halbseitig gelähmt. «Man sagte mir, das geht nach neun bis zwölf Monaten vorbei.» Diese Zeit ist knapp vorüber, als Anne mit BLICK spricht. Ihr Gesicht ist immer noch gelähmt.
«Was bist du für ein schräger Typ?»
«Es gab Momente, in denen ich in den Spiegel geschaut habe und einfach lachen musste. Dann hab mich mir gedacht, was bist du für ein schräger Typ?» Sie bleibt optimistisch: «Im Sommer sehe ich meinen Arzt. Dann schauen wir, wie wir das weiter behandeln.» Es sei schon viel besser geworden.
Auch einen Teil ihres Gehörs hat Anne verloren. Der Hörnerv ihres rechten Ohrs wurde vom Tumor zerfressen. Anne weiss, das ist irreversibel. Das sei okay, sie stört nur, dass kaum jemand offen mit dem Thema Gehörlosigkeit bei jungen Menschen umgehe. «Man geht ja nicht davon aus, dass ich gehörlos bin. Das macht es noch schwerer.» Deshalb versucht sie, zu sensibilisieren, trägt ihre Hörgeräte ganz offen.
Trotz der Folgeschäden bleibt Anne Estermanns Optimismus ungebrochen: «Das Leben ist hart, aber ich bin härter.» Jetzt engagiert sie sich bei der schweizerischen Hirnliga und ruft bei Verdacht auf Hirntumor zu Mut auf. «Vorsicht ist besser als Nachsicht. Beharrt auf euer MRT oder CT, wenn ihr einen Verdacht habt. Bitte.» Anne ist froh, dass sie ihr Kind in die Arme schliessen kann – obwohl sie ihre Diagnose so spät bekam. Hält sie ihre Tochter im Arm, spielen Gehörlosigkeit und Gesichtslähmung keine Rolle in ihrem Leben.