Das kalifornische Santa Clara Valley ist mit 100 Kilometern ebenso lang wie das Tessin. Wie der Highway 101 bildet auch die A 2 eine wichtige Nord-Süd-Achse. Prächtige Natur und Sonne locken dort wie hier Touristen. Und nicht nur sie. In der San Francisco Bay Area siedelten sich im Laufe der Jahrzehnte die grössten IT-Unternehmen der Welt an. Während sich das Santa Clara Valley bereits zum sogenannten «Silicon Valley» mauserte, ist auch die Schweizer Sonnenstube auf dem Weg zu einem europäischen Topstandort für Technologie und Forschung.
«Als ich vor zehn Jahren von Rom ins Tessin kam, habe ich gestaunt über die Vielzahl der Forschungszentren, die es schon damals gab», sagt etwa Silvia Misiti (55) vom Institut Biochimique SA in Lugano TI. Sie und ihr Team geben das Nachrichtenportal «Ticino Scienza» heraus. Vieles, was im Tessin auf dem Gebiet passiert, sei der breiten Öffentlichkeit gar nicht bekannt, sagt Misiti. Das möchten sie ändern.
Tessiner Forschungszentren – klein, aber fein
Und zu berichten gibt es einiges. Tatsächlich wird im Tessin gerade viel Geld in die Entwicklung und Erforschung von Hightech investiert. Da wäre der neue Campus Ost der Tessiner Universität USI und der Fachhochschule Südschweiz (SUPSI), eingeweiht vor genau einem Jahr. Der Luganeser Neubau beherbergt unter anderem auch das Dalle-Molle-Forschungsinstitut für Studien zur künstlichen Intelligenz (KI). Dieses zählt zu den weltbesten Vorreitern, was die Entwicklung von Schwarmintelligenz, maschinelles Lernen, künstliche neuronale Netzwerke und Robotik betrifft.
Die 120 Mitarbeiter und zahlreichen Studenten, darunter 40 Doktoranden, kommen aus der ganzen Welt, um im Tessiner Institut ihre Karriere zu starten. Und die Chancen, im Südkanton ein Überflieger zu werden, stehen nicht schlecht. So studierte etwa am Dalle-Molle-Institut Shane Legg, Mitbegründer des KI-Unternehmens Deepmind. Das Unternehmen wurde 2014 für 500 Millionen US-Dollar an Google verkauft.
Unternehmen wie die UBS und Mastercard arbeiten mit dem Dalle-Molle-Forschungsinstitut zusammen. Ebenso zählt das Bundesamt für Rüstung im Kampf gegen Fake News und Cyberattacken auf dessen Unterstützung.
Warum das Tessin zum Magneten der Forschung wurde, erklärt Andrea Rizzoli (57) so: «Es ist einerseits die Lage zwischen Zürich und Mailand, hinzu kommt die Nähe zum Hochleistungsrechenzentrum in Lugano», sagt der Leiter des Dalle-Molle-Forschungsinstituts. Dort soll 2023 der weltweit leistungsstärkste Supercomputer für KI in Betrieb gehen.
Dazu kommt: Der Kanton ist Mitglied der «Greater Zurich Area». «Das eröffnet uns Möglichkeiten, mit Unternehmen in Kontakt zu treten, auch aus dem Ausland. Ich erhalte jede Woche Anrufe von innovativen Unternehmen, die sich im Tessin ansiedeln wollen. Viele kommen aus der Telekommunikation», so Rizzoli.
Therapien gegen Omikron und Ebola
Im November 2021 wurde zudem ein modernes Laborgebäude in Bellinzona TI eröffnet. Unter dem Dach mit Fotovoltaikpaneelen arbeiten nun das Institut für biomedizinische Forschung (IRB) und das Institut für Onkologische Forschung (IOR) Tür an Tür. Ihre Errungenschaften in der Erforschung von Krebszellen sowie Antikörpern gegen Coronaviren und Krankheitserreger wie Zika und Ebola sind international hochgelobt. Das neuste Mitglied im IRB-Vorstand spricht für Klasse: Charles M. Rice (69), US-Nobelpreisträger für Medizin 2020 und Entdecker des Hepatitis-C-Virus. Im neu geschaffenen Bio-Pol «Bellinzona Institutes of Science» arbeiten 125 Wissenschaftler in 13 Forschungsgruppen.
Auch die Humabs Biomed AG in Bellinzona macht Schlagzeilen. Das Unternehmen entwickelte die weltweit einzige Therapie gegen die Omikron-Variante des Coronavirus. Sein monoklonaler Antikörper Sotrovimab wird nun vom britischen Pharmariesen GSK produziert. Im Schulterschluss mit dem Institut für biomedizinische Forschung gelang Humabs Biomed zuvor die Entwicklung eines Medikaments gegen Ebola.
Und bald soll das Tessin auch der führende Standort in der Entwicklung von Drohnen-Technologie werden. Für rund drei Millionen Franken wird derzeit ein Drohnen-Base-Camp in der Gemeinde Lodrino TI geplant. Dafür wurde bereits der «schweizweit erste exklusive Drohnenflugraum» geschaffen, wie das Bundesamt für Zivilluftfahrt schreibt.
Schon 2017 wurde der Kanton Tessin zum Drohnen-Versuchslabor. So hat die Schweizerische Post in Lugano den weltweit ersten Transportdienst für Laborproben per Drohne in Betrieb genommen. Eine Drohne fliegt seither zwischen dem Ospedale Italiano und dem Ospedale Civico hin und her.
Wie stark der Standort Tessin in Sachen Innovation und Forschung geworden ist, zeigt der jährlich erscheinende «Innovationsindex» der EU-Kommission. Dort gehört das Tessin zusammen mit dem Raum Zürich zu den innovationsstärksten Gegenden Europas.