Das Protestcamp ZAD ist längst geräumt, doch der «Kampf um Mormont» ist nicht vorbei. Nächste Woche finden Einzelprozesse gegen Besetzerinnen und Besetzer des dem Zementmulti Holcim gehörenden Hügels statt. Für ihre Klima-Protestaktion drohen ihnen bis zu 90 Tage Haft.
Und drei Uno-Botschafter äussern sich besorgt zu den Vorgängen. In einem Anfang November verfassten und jüngst veröffentlichten neunseitigen Schreiben wenden sich Clément Nyaletsossi Voule (Sonderberichterstatter für Versammlungsfreiheit), David Boyd (Umwelt) und Irene Khan (Meinungsfreiheit) an Jürg Lauber, Schweizer Botschafter bei der Uno in Genf. Sie äussern sich besorgt zu Vorwürfen der Klimaaktivistinnen und -aktivisten – neben «nicht angemessenen» möglichen Strafen erwähnen die drei Uno-Sonderberichterstatter auch «exzessive Gewaltanwendung».
Nur: Blick-Recherchen zeigten ein anderes Bild. Die Räumung sei extrem friedlich verlaufen, berichtet Reporterin Luisa Ita. Wie aber kam es dann zu dem Brief?
Amnesty International kritisierte nur juristische Verfahren
«Die Mitteilung, die den Behörden übermittelt wurde, stützt sich auf Informationen aus verschiedenen Quellen über angebliche Menschenrechtsverletzungen. Der Zweck dieses Schreibens ist es daher, diese Behauptungen weiter zu klären», teilte Versammlungsfreiheit-Sonderberichterstatter Clément Nyaletsossi Voule am Donnerstag auf Blick-Anfrage mit.
Der erste Hinweis erreichte die Uno-Sonderberichterstatter offenbar von Amnesty International in der Schweiz. Die Menschenrechtsorganisation hatte die Behörden bereits im September für ihren Umgang mit den Aktivistinnen und Aktivisten kritisiert – allerdings ausschliesslich bezüglich der juristischen Verfahren. Die Haftstrafen seien «unverhältnismässig und menschenrechtswidrig».
«Wir haben uns auch gegenüber den Uno-Sonderberichterstattern nicht zur Räumung selbst geäussert und dazu, wie die Polizei vorgegangen ist. Wir haben davor gewarnt, dass so hohe Haftstrafen bei einem friedlichen Protest drohen», erklärt Amnesty-Sprecher Beat Gerber auf Blick-Anfrage. «Die Uno-Sonderberichterstatter beziehen sich zusätzlich auf Vorwürfe exzessiver Gewalt durch die Polizei und rufen die Schweiz auf, dazu Stellung zu nehmen. Da Amnesty International dies den Behörden so nicht vorwirft, gehe ich davon aus, dass die Sonderberichterstatter noch andere Quellen herangezogen haben.»
Welche Quellen genau, ist unklar. Auf Blick-Anfrage äusserte sich keiner der drei beteiligten Uno-Sonderberichterstatter detailliert. Solche Quellen blieben durch die Vertraulichkeitsanforderungen der Sonderverfahren des OHCHR geschützt, sofern nicht ausdrücklich etwas anderes angegeben werde, teilte Versammlungsfreiheits-Sonderberichterstatter Voule mit.
Uno-Sonderberichterstatter: «Wir übermitteln nichts offensichtlich Unglaubwürdiges»
Dass verschiedene Seiten angehört würden, sei allerdings auch nicht üblich, sagt der Schweizer Nils Melzer, Uno-Sonderberichterstatter über Folter, zu Blick. «Wir Sonderberichterstatter übermitteln nur Vorwürfe. Es ist dann an der Regierung zu untersuchen. So funktioniert das System, und wir dürfen gar nicht anstelle der Behörden alle Untersuchungen durchführen.» Klar sei aber auch: «Wir müssen nicht jeden Hinweis übermitteln.»
Die ersten Vorwürfe stützen sich in der Regel auf einseitige Hinweise. «Wir Sonderberichterstatter stellen falls nötig Rückfragen, um sicherzustellen, dass wir nichts offensichtlich Unglaubwürdiges weitervermitteln, denn jedes Schreiben wird nach 60 Tagen auch automatisch öffentlich.»
So auch in diesem Fall. «Aus meiner Sicht haben die Kolleginnen und Kollegen ganz korrekt ihrer Sorge Ausdruck verliehen und weitere Abklärungen verlangt», sagt Melzer. Er weist auch darauf hin, dass die Uno-Sonderberichterstatter ehrenamtlich arbeiten. Täglich erhalte er etwa 10 bis 15 Anfragen. Im vergangenen Jahr habe er fast 400 Hinweise übermittelt. «Eine detaillierte Voruntersuchung wäre mit meinen Ressourcen daher gar nicht machbar.»
Amnesty-Sprecher: «Strafbefehle ohne Möglichkeit auf Rekurs»
Das Waadtländer Departement für Umwelt und Sicherheit (DES) hat nach dem Schreiben der Uno-Sonderberichterstatter ausführlich Stellung genommen. Die Behörde bestreitet die Darstellung bestimmter Tatsachen. Das DES erklärt auch, dass die Aktivisten entgegen den an die Uno-Sonderermittler übermittelten Angaben nicht nur Verteidiger der Menschenrechte und der Umwelt waren. Sie seien Teil «heterogener Gruppen unterschiedlicher Überzeugungen, angetrieben von unterschiedlichen Ursachen, Zielen und Vorgehensweisen».
Amnesty International, deren Kritik das Schreiben der Uno-Sonderberichterstatter auslöste, sieht das anders. Die Aktivistinnen und Aktivisten hätten aus Gewissensgründen gehandelt, sich friedlich gegen die Erweiterung des Steinbruchs zur Wehr gesetzt und keine dauerhaften Schäden oder grösseren Störungen verursacht. «Was uns besonders stört, ist, dass die Landeigentümerin Holcim die Anzeige hat fallen lassen und die Strafbefehle von 60 bis 90 Tagen Haft dennoch ohne Möglichkeit auf Rekurs ausgestellt wurden», sagt Sprecher Beat Gerber.
«Holcim hat sich stets für eine friedliche Räumung eingesetzt und war erleichtert, dass es zu keinen grösseren Zwischenfällen gekommen ist. Nach der Räumung haben wir unsere Klage zurückgezogen, zumal rechtliche Schritte von den Waadtländer Behörden eingeleitet wurden», teilt Sprecherin Nadia Bohli auf Blick-Anfrage mit. Das Unternehmen sei «zunehmend mit radikalen Umweltbewegungen konfrontiert», aber stets «offen für einen konstruktiven Dialog».
Für Holcim ist der Fall damit erledigt. Für die Klimaaktivistinnen und -aktivisten geht er weiter – unter anderem ab kommender Woche vor Gericht.