Sie kam aus Südeuropa in den Kanton Zürich – zu einer Familie aus ihrem Land. Vereinbart war eine Anstellung als Kindermädchen. Für 500 Franken pro Monat. Nach ihrer Einreise musste sie aber zusätzlich kochen, putzen und das Elternpaar bedienen – so gut wie rund um die Uhr.
Die 700 Franken, die sie bei ihrer Ankunft bei sich hatte, wurden der Frau abgeknöpft. Es folgten Beschimpfungen, Ohrfeigen, Fusstritte. Der Vater zwang die Frau sogar zum Oralverkehr und drohte ihr mit dem Tod. Vergangenen Sommer wurde das Paar schuldig gesprochen – wegen Menschenhandels.
Riesige Dunkelziffer
Für die Jahre 2009 bis 2018 weist die gesamtschweizerische Kriminalstatistik 949 Geschädigte von Menschenhandel und/oder Förderung von Prostitution aus. In Wahrheit dürfte die Zahl der Opfer deutlich höher liegen. «Die Dunkelziffer ist riesig», sagt Alexander Ott (60), Vorsteher der Fremdenpolizei der Stadt Bern.
Menschenhandel ist ein Kontrolldelikt – wer nicht sucht, der findet auch nichts. Wie viele Fälle geahndet werden, hängt stark von den Behörden ab. Ott: «Je enger die verschiedenen Polizeikorps, Staatsanwaltschaften, Migrationsämter, Arbeitsinspektoren und Opferhilfen zusammenarbeiten, desto höher sind die Chancen der Aufklärung.»
Grosse kantonale Unterschiede
Die Schweiz hat sich völkerrechtlich verpflichtet, die moderne Form der Sklaverei zu bekämpfen. Für die Umsetzung jedoch sind die Kantone verantwortlich – und die nehmen ihre Verantwortung sehr unterschiedlich wahr, wie eine Untersuchung des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) zeigt.
Gemäss der Studie, die das Bundesamt für Polizei (Fedpol) in Auftrag gegeben und vergangene Woche veröffentlicht hat, hängt das Vorkommen von Menschenhandel von der wirtschaftlichen Struktur der Kantone ab: je bedeutender dort das Sexgewerbe, desto höher das Risiko für sexuelle Ausbeutung; je wichtiger das Gast- oder Baugewerbe, desto höher das Risiko für Ausbeutung am Arbeitsplatz.
In den meisten Kantonen seien die Bemühungen, diese illegalen Machenschaften zu bekämpfen, dem jeweiligen Risiko angepasst, schreiben die Autorinnen. Es gebe jedoch Kantone, deren Vorkehrungen in dieser Hinsicht ungenügend seien.
Besonders schlecht schneiden Graubünden, Jura und Schaffhausen ab. Dort werde dem geschätzten Risiko «kaum durch entsprechende Bekämpfungsmassnahmen» begegnet, so das Fazit der Untersuchung. Mit anderen Worten: In diesen Kantonen haben Menschenhändler zu leichtes Spiel.
Jura sieht keine Probleme
Die kritisierten Kantone reagieren unterschiedlich auf die Vorwürfe. Die Jurassier geben sich überzeugt, dass die Ausbeutung von Menschen in ihrer Region kaum ein Problem ist: «In den letzten drei Jahren wurde im Jura nur eine einzige Situation des Menschenhandels im Zusammenhang mit der Ausbeutung der Arbeitskraft festgestellt», schreibt die kantonale Medienstelle auf Anfrage. Angesichts dessen habe man entschieden, dass es nicht angebracht sei, neue Konzepte wie etwa einen runden Tisch zu erproben.
Auch die Bündner stellen die Risikoeinschätzung der Studie infrage. «Diese basiert auf einer Reihe von Annahmen und geschätzten Werten und ist deshalb mit Vorsicht zu interpretieren», schreibt ein Sprecher der Kantonspolizei. Der Kanton hebt hervor, der Austausch unter den zuständigen Dienststellen und Behörden funktioniere sehr gut – auch ohne gezielte institutionalisierte Zusammenarbeit im Kampf gegen den Menschenhandel. Die Bündner erklären sich immerhin bereit, die aktuelle Praxis «wo sinnvoll» zu optimieren. So prüfe man etwa die verstärkte Zusammenarbeit mit der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ).
Schaffhausen ist da einen Schritt weiter. Dort gibt es seit diesem Jahr eine Zusammenarbeit mit der FIZ, die sicherstellen soll, dass Betroffene Schutz und Unterstützung erhalten. Zudem hat der Kanton Anfang Jahr einen runden Tisch Menschenhandel eingeführt.
Die Verantwortlichen betonen deshalb, dass der Kanton seine Bestrebungen zur Bekämpfung des Menschenhandels verstärkt habe und seine Verpflichtungen nun vollumfänglich wahrnehme. Die Studie, die sich auf Umfragen aus dem Jahr 2019 bezieht, sei für Schaffhausen deshalb überholt.
Wenn Opfer noch gebüsst werden
Doro Winkler (58) von der FIZ bestätigt dies. Kantonale Unterschiede in der Bekämpfung von Menschenhandel gebe es aber nach wie vor. «Dies hat zur Folge, dass es Glück oder Pech ist, in welchem Kanton jemand ausgebeutet wird – beziehungsweise ob jemand erkannt wird und Hilfe erhält.»
Der geschilderte Fall des Kindermädchens zum Beispiel sei nur ans Licht gekommen, weil die Strafverfolgungsbehörden im Kanton Zürich stark für das Thema sensibilisiert seien und die Zusammenarbeit funktioniere.
Winkler ist überzeugt: «In einigen anderen Kantonen wäre die Situation nicht als Menschenhandel erkannt und das Opfer wegen illegalem Aufenthalt und fehlender Arbeitserlaubnis womöglich sogar noch gebüsst worden.»