Krisengipfel der Gesundheitsbranche in Bern
Nach Gerichtsurteil droht Ärzte-Aufstand

Dank eines Bundesgerichtsurteils können Krankenkassen Millionen von Ärzten zurückfordern. Das Ausmass wurde bisher massiv unterschätzt: Mehr als jede zweite Hausarztpraxis ist potenziell betroffen.
Publiziert: 08.12.2024 um 08:48 Uhr
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Aktualisiert: 08.12.2024 um 10:51 Uhr
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Hausärztinnen unter Druck: Viele könnten mit hohen Rückforderungen konfrontiert werden.
Foto: imago images

Auf einen Blick

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Lino SchaerenRedaktor

Freitagnachmittag, Elfenstrasse 18 in Bern: Am Hauptsitz der Ärztevereinigung FMH hat sich die Gesundheitsbranche diese Woche zum Krisengipfel getroffen. Thema: Zwei Urteile des Bundesgerichts und ihre Folgen für die Gesundheitsversorgung in der Schweiz. Denn diese sind weit dramatischer als bisher bekannt.

Rückblende: Das oberste Gericht hatte im Sommer im Streit um die Abrechnung von Dringlichkeits- und Notfallpauschalen im Sinne der Krankenkassen entschieden. Notfallpraxen mit längeren Öffnungszeiten am Abend und an Wochenenden dürfen die Zulagen nicht mehr abrechnen. Und: Permanencen sowie Walk-in-Kliniken drohen Rückforderungen der Versicherer in Millionenhöhe. Unternehmen wie der Kindernotfall Swiss Medi Kids bangen deshalb um ihre Existenz.

Nicht im Visier hatten die Krankenkassen beim Gang vor die Gerichte hingegen kleinere Hausarztpraxen, Kinderärzte oder Psychiaterinnen. Doch genau bei ihnen droht jetzt ein Kollateralschaden.

Horrende Forderungen

Das Bundesgericht hat sich nicht nur mit der Notfallversorgung zu Randzeiten befasst. Es hat auch entschieden, dass alle Ärztinnen und Ärzte in einem Anstellungsverhältnis keine Pauschalen für Notfälle abrechnen dürfen. Das gilt nicht nur für die Geschäftsmodelle der Permanencen, sondern auch für die Hausarztmedizin: Ein selbständiger Hausarzt ohne fixen Lohn kann demnach höhere Tarife geltend machen als ein Mediziner mit Arbeitsvertrag, der dieselbe Arbeit macht.

Für die Allgemeinmediziner ist das ein Donnerschlag: Mehr als die Hälfte der Ärztinnen und Ärzte im Land arbeitet inzwischen im Anstellungsverhältnis. FMH-Präsidentin Yvonne Gilli (67) sagt deshalb: «Nicht nur die Notfallversorgung ausserhalb der Spitäler ist gefährdet, sondern auch die Zukunft der Grundversorgungspraxen.»

Realisiert haben das Ausmass der neuen Rechtssprechung selbst die Akteure im Gesundheitswesen erst, als auch die ersten Hausärzte von Krankenkassen aufgefordert wurden, abgerechnete Notfallpauschalen zurückzuzahlen. Monika Reber (54) ist Präsidentin des Verbandes Haus- und Kinderärzte Schweiz. Sie sagt: «Die geforderten Summen sind teilweise horrend und existenzbedrohend.»

Viele Ärzte seien verunsichert, sie wüssten nicht mehr, was gelte, und zögen in Betracht, ihre Leistungen zu reduzieren. Reber spricht von Existenzängsten, in der Romandie ist die Rede von Panik bei Betroffenen. Zwar sei bisher nur ein kleiner Teil der Verbandsmitglieder mit Forderungen konfrontiert, sagt Reber. Doch da potenziell mehr als jede zweite Praxis betroffen sein könnte, hätten viele Angst, die Nächsten zu sein.

Tatsächlich geben die meisten der grossen Krankenkassen auf Anfrage an, dass mögliche Rückzahlungen noch geprüft und koordiniert würden. Der grosse Teil der Forderungen dürfte also noch kommen.

Ärzte drohen mit Streik

Reber war am Freitagnachmittag als Vertreterin der Haus- und Kinderärzte beim Krisengipfel in Bern dabei. Mit ihr am Tisch sassen Vertreter der Krankenversicherer- und Ärzteverbände, der Gesundheitsdirektorenkonferenz der Kantone und des Bundesamts für Gesundheit. Tarifpartner, Kantone und Bund hätten sich auf das immense Ausmass des Problems verständigt, sagt Reber. Eine Arbeitsgruppe soll jetzt rasch mögliche Lösungen erarbeiten – ein Fahrplan könnte noch vor Weihnachten vorliegen.

Die Eile kommt nicht von ungefähr. In der Ärzteschaft brodelt es gewaltig. Betroffene drohen offen mit Aufstand: In Genf wollen die Kinderärzte am 21. Dezember in Streik treten, Notfall-Bereitschaftsdienste sollen geschlossen bleiben. Philippe Eggimann (64), FMH-Vizepräsident und Vorsteher der Société Médicale de la Suisse Romande, sagte gegenüber der Zeitung «Le Temps»: «Wenn die ärztlichen Bereitschaftsdienste bankrottgehen, wird es Tote geben.»

Der Verband der Kinderärzte des Kantons Jura hat sich dem Genfer Streikaufruf bereits angeschlossen. Auch in Zürich waren Anfang Woche an einem gut besuchten Informationsanlass der Ärztegesellschaft die Rufe nach einem Streik laut. Die Stimmung war laut Präsident Tobias Burkhardt (53) aufgeheizt. Die Arbeit niederzulegen, sei derzeit aber noch nicht opportun. «Leiden würden darunter vor allem die Patienten, und das sollte aus Sicht der Ärztinnen vermieden werden.»

Notfallbehandlung im Spital viel teurer

Hintergrund des Konflikts und der Gerichtsurteile ist die völlig veraltete Tarifstruktur Tarmed. Sie wurde eingeführt, als 80-Stunden-Wochen in der Hausarztmedizin keine Seltenheit waren. Die Realität ist heute eine völlig andere. Der Fachkräftemangel und das Bedürfnis nach Teilzeitarbeit haben viele Grundversorger veranlasst, sich in Gruppenpraxen zu organisieren.

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Versicherer und Leistungserbringer warten deshalb sehnlichst auf die Tarifstruktur Tardoc, die den Tarmed ablösen wird. Die Einführung ist für Januar 2026 geplant. Damit es bis dahin nicht zu ungewollten Bereinigungen in der medizinischen Grundversorgung kommt, soll eine Übergangslösung her.

Selbst die grossen Krankenkassen betonen, für eine schnelle branchenweite Einigung offen zu sein. Zwar wären Rückzahlungen in Millionenhöhe für sie ein willkommener Zustupf an die Reserven. Sie wissen aber auch: Leidet darunter die Grundversorgung, kommt das um ein Vielfaches teurer. Stellen Arztpraxen die Notfallversorgung ein, landen noch mehr Menschen in den Notfallstationen der Spitäler. Die Behandlung in diesen kostet zwei- bis dreimal so viel wie in einer ambulanten Praxis – und das müssen die Versicherungen und letztlich die Prämienzahlenden berappen.

Alles blickt auf Bundesrätin Baume-Schneider

Und die Politik? Sie hat sich bisher vornehm zurückgehalten. Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider (60) hat vor zwei Wochen zur Entschärfung des Fachkräftemangels in der Medizin die Agenda Grundversorgung lanciert. Im Konflikt um die Notfallpauschalen hat sie aber auf die Tarifpartner verwiesen: Sie seien in der Verantwortung, eine Lösung zu finden.

Am Montag wird sich die Bundesrätin erneut zum Thema äussern müssen. Mehrere Parlamentarierinnen haben die Notfallpauschalen auf die Traktandenliste der Fragestunde im Nationalrat gesetzt. Die Gesundheitsbranche blickt deshalb gebannt nach Bundesbern: Ein Machtwort der Bundesrätin in dieser Sache wäre wahrscheinlich den meisten willkommen.

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