Kaufsüchtige packt aus
«Ich habe alles in allen Farben»

In der Schweiz haben rund 8 Prozent der Bevölkerung ein problematisches Kaufverhalten. Nina Gloor ist eine davon.
Publiziert: 16.04.2025 um 15:37 Uhr
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Aktualisiert: 16.04.2025 um 19:41 Uhr
Kaufsüchtige übertünchen mit Shopping beispielsweise negative Emotionen. (Symbolbild)
Foto: Shutterstock

Darum gehts

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Katharina Siegrist
Beobachter

Nina Gloor geht durchs Zimmer, streicht mit ihren Fingerspitzen über glattweisse Schrankwände. Acht Laufmeter davon stehen sich im Raum links und rechts gegenüber. An diesem sonnigen Morgen tanzen Regenbogensprenkel darauf – Reflexionen des Kristallleuchters, der in der Mitte des Zimmers hängt.

Nina Gloor öffnet eine Schranktür nach der anderen. Dahinter: Taschen in Wildleder, Glattleder, Patentleder und Velours. Kleider in Viskose, Samt, Elasthan, Baumwolle und Leinen. Geblümtes, Gestreiftes, Gepunktetes und Getigertes. Hosen, T-Shirts, Pullover und Blazer in Aschgrau, Mintgrün, Ocker, Purpur oder Türkis. «Ich habe alles in allen Farben», sagt die 50-Jährige dem Beobachter.

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Von den Dingen erschlagen fühle sie sich nicht. Im Gegenteil: «Ich schaue mir die Kleider und Taschen gern an. Streiche über den Stoff oder schwelge in Erinnerungen. Ich habe einfach Freude an schönen Dingen.»

Kaufsucht ist mit Drogensucht vergleichbar

Nina Gloor heisst tatsächlich anders. Sie redet offen über ihr Problem. Ihre engsten Freunde und ihre Familie wissen Bescheid, selbst der Chef. Doch die ganze Firma müsse es nicht wissen, sagt sie.

Nina Gloor ist kaufsüchtig.

In der Schweiz haben fast 8 Prozent der Menschen ein problematisches Kaufverhalten. Bei Frauen unter 35 Jahren ist es fast jede Fünfte. Diese Zahlen hat das Bundesamt für Gesundheit für das Jahr 2022 erhoben. Damit sind mehr Menschen von einer Kaufsucht betroffen als von einer Gaming- oder Pornosucht (wobei es bei Letzterer kaum zuverlässige Zahlen gibt).

Doch was macht das Kaufen überhaupt erst problematisch? Das wollte der Beobachter von Domenic Schnoz wissen. Er ist Leiter des Zentrums für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte in Zürich und sagt: «Wenn man dabei die Kontrolle verliert und sich selbst schadet.» Und: «Wenn man nur noch kauft, um seine Gefühle zu regulieren, etwa um negative Emotionen zu übertünchen.»

Nina Gloor kennt das – alles davon. Sie habe sich schon immer leer und unruhig gefühlt. Vor 20 Jahren kam dann diese Stimme im Kopf dazu, die ihr Shoppen als Erlösung versprach. Sie ist bis heute nicht verstummt.

Klickt sich Nina Gloor durch Onlineangebote oder betritt sie einen Laden, überschreitet sie die Schwelle in eine andere Welt. «Dann verliere ich das Mass, vergesse die Zeit – und die Vernunft ist weg.»

Schuld daran ist Dopamin. Ein Hormon, das den Drang weckt, Neues zu entdecken und dafür eine Belohnung zu erhalten. «Kaffee trinken mit der Freundin, ein feines Praliné zwischendurch oder ein Abschuss beim Shooter-Game: Unser Belohnungssystem springt in ganz unterschiedlichen Situationen an», sagt Fachmann Schnoz. «Zur Sucht wird ein Verhalten dann, wenn unser Gehirn nur noch bei einer ganz bestimmten Tätigkeit – etwa beim Shoppen – spürbar Dopamin ausschüttet.» Andere Reize würden daneben immer mehr an Intensität und Wert verlieren. Damit sei Kaufsucht durchaus mit Drogensucht vergleichbar.

Kaufsüchtige sind die besten Kunden

Aber: Es gibt einen himmelweiten Unterschied zwischen den beiden. Während Kokain und andere Drogen verboten sind, ist Shopping ein wichtiger Treiber der Wirtschaft. Konsum ist gewollt und wird mit Werbung zusätzlich angekurbelt. Und Kaufsüchtige sind keine Last, keine unmittelbare Gefahr, sie sind die besten Kundinnen. Die will man nicht verlieren.

Das kann Rausan Noori nur bestätigen. Die Anwältin prangert die oft laxe Praxis bei der Vergabe von Krediten seit Jahren an. Kreditfirmen müssen nach dem Gesetz zwar abklären, ob jemand den Kredit abzahlen kann, ohne dafür das erweiterte Existenzminimum anzuzapfen. «Tatsächlich verlassen sich diese Firmen aber teils blind oder sogar wider besseres Wissen nur auf die Angaben der Schuldnerinnen.»

Zudem würden nicht alle Positionen des Existenzminimums berücksichtigt – etwa Steuern, auswärtige Verpflegung oder die Autokosten. «Die Kreditfirmen nehmen ihre Verantwortung nicht wahr», kritisiert Noori. «Sie müssen aktiv nachhaken, wenn die Angaben unklar oder widersprüchlich sind. Alles andere ist gesetzeswidrig.»

Caritas Schweiz wies bereits 2017 mit etlichen Beispielen nach, dass ein grosser Teil der Kredite das Konsumkreditgesetz verletzt. Und 2024 kam eine interne Untersuchung der Bank Now zum gleichen Schluss. Doch bis heute sieht der Bundesrat keinen Handlungsbedarf. Die Verschuldungsrate als Folge von Konsumkrediten sei tief und stabil.

Fast 85’000 Franken auf Pump

Auch Nina Gloor hat Schulden. Fast 85’000 Franken waren es zu Spitzenzeiten. Da habe sie im Monat bis zu 5000 Franken für Kleider, Schmuck und Deko ausgegeben. Alles auf Pump. Während sie erzählt, huschen ihre Finger über die Armreifen, Ringe, Halsketten, Anhänger, Perlen und Broschen in ihrer Schmuckkommode. Kristallenes, bronzenes, mond- und bernsteinfarbenes Schimmern und Glitzern. Silberne Ohrstecker zum goldenen Clutch-Verschluss? Undenkbar!

«Ich bin eine Perfektionistin – sogar im Schuldenmachen.» Ihre Kreditraten bezahle sie immer pünktlich. Und sollte es doch zu einem Engpass kommen, dann reiche ein freundliches Telefon. «Es ist selten ein Problem, einen Zahlungsaufschub oder eine Erhöhung der Kreditlimite zu bekommen.»

Vor drei Jahren hatte Gloor einen Erweckungsmoment. Sie trennte sich von ihrem Freund, verkaufte die Wohnung und bekam 100’000 Franken ausbezahlt. «Nach 20 Jahren war ich das erste Mal schuldenfrei. Dieses Gefühl war einfach unbeschreiblich!»

Ständiger Kampf mit dem Budget

Dieser Zustand ist ihre Motivation. Denn mittlerweile ist sie wieder mit fast 35’000 Franken im Minus. «Dafür, dass ich es nicht geschafft habe, schuldenfrei zu bleiben, schäme ich mich sehr.»

Sie arbeitet an sich und besucht eine Selbsthilfegruppe. Versucht, sich eisern an ein Budget zu halten. Ende Monat hat sie ab und zu noch 200 Franken auf dem Konto. Dieses Geld nicht auszugeben, sei schwierig. «Wenn es gelingt, ist das jedes Mal ein kleiner Erfolg für mich. Es ist ein ständiger Kampf.»

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