Darum gehts
Eltern von Schulkindern kennen das: Wie toll wäre es, wenn man einen Tag früher in die Ferien fahren könnte! Der Zug wäre nicht so voll, der Flug billiger, die Fähre noch nicht ausgebucht. Doch die meisten Schulen in der Schweiz verbieten es, den letzten Tag des Schuljahrs freizunehmen.
Wer das trotzdem tut, verstösst gegen die kantonalen Volksschulgesetze oder -verordnungen und wird gebüsst. Der Ermessensspielraum ist allerdings gross. Das musste auch Amina Ghulam aus Maienfeld in der Bündner Herrschaft erleben.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Die 46-jährige Ärztin hat vier Kinder im Primarschulalter. Seit der Trennung von ihrem Mann leben die zwei Söhne und zwei Töchter hauptsächlich bei ihr. Jedes zweite Wochenende sind sie beim Vater. «Wir mussten eine sehr schwierige Zeit durchmachen», erzählt Ghulam dem "Beobachter". Seit 2021 lebt das Paar getrennt, 2023 folgte die Scheidung.
Familienauszeit nach Trennungsstress
Zum Abschluss der Primarschule des ältesten Sohnes wollte Amina Ghulam im vergangenen Sommer eine grössere Reise machen. «Meine Kinder sind noch nie geflogen, wir brauchten eine Auszeit nach all dem Trennungsstress», sagt Ghulam. Die Wahl fiel auf Kanada. Sie planten eine Rundreise mit Zug und Wohnmobil.
Da ihre Kinder noch nie im Unterricht gefehlt hatten und schulisch alles gut lief, dachte Amina Ghulam sich nicht viel dabei, als sie den Hinflug für Freitag, 28. Juni 2024, buchte, den letzten Schultag vor den Sommerferien. «Ich habe nur vier Wochen Ferien und wollte die Zeit voll ausnützen», erzählt sie. Ghulam arbeitet als Anästhesistin 80 Prozent in einem Spital im St. Galler Rheintal. «Ich hätte nie gedacht, dass man uns den Tag nicht gibt», so die Ärztin.
Busse von 2000 Franken
Allerdings verstiess sie mit dem freigenommenen Tag gegen das Absenzenreglement des Schulverbands Bündner Herrschaft, wonach Jokertage direkt vor den Sommerferien nicht erlaubt sind.
Ein paar Wochen nach den Sommerferien flatterte ein Brief ins Haus. Der Schulrat brummte Ghulam eine Busse von je 500 Franken pro Kind auf. Total: 2000 Franken. Grund: «Unterrichtsversäumnis am letzten Schultag des Schuljahres 2023/24». Er begründete die Höhe der Strafe damit, «dass die Busse nicht tiefer sein sollte als eine mögliche Einsparung aus einem günstigeren Flug». Das entspreche der gängigen Praxis.
«Völlig überrissen», fand Ghulam, «das kann ich doch nicht auf mir sitzenlassen. Ich fühlte mich wie eine Schwerverbrecherin.» Mit Verweis auf andere Gemeinden wie St. Moritz oder Davos, wo die Bussen massiv geringer sind, erhob sie Beschwerde.
Weil die Schule auf ihrer Busse beharrte, schaukelte sich die Sache bis zum Kanton hoch. Dieser entschied nun aber im Sinn von Amina Ghulam: Die Busse wurde «in Erwägung aller Umstände» auf 100 Franken pro Kind reduziert. Die Begründung des Schulrats sei «ziemlich sachfremd», hielt das Bündner Verwaltungsgericht fest. Ghulam hat die 400 Franken bereits bezahlt.
Christof Kuoni, Schulratspräsident des Schulverbandes Bündner Herrschaft, sagt: «Wir haben das Urteil akzeptiert und nicht weitergezogen.» Die Bussenpraxis werde nun überprüft.
Willkür bei Bussen an Schweizer Schulen
Über den Einzelfall hinaus zeigt diese Geschichte, wie willkürlich die Strafbestimmungen an Schweizer Schulen gehandhabt werden. So behandelte das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden erst kürzlich einen Fall, bei dem eine Busse von 1500 Franken angefochten worden war – allerdings hatten da drei Kinder während dreier Monate unentschuldigt geschwänzt. Auch im entsprechenden Urteil wird auf den Wildwuchs bei der Bussenfestsetzung verwiesen.
Ein weiteres Beispiel dafür liefern zwei jüngere Urteile, ebenfalls aus Graubünden: Für einen einzigen unentschuldigten Fehltag gab es an einem Ort 250 Franken Busse, an einem anderen für zwei Wochen Fehlen 500 Franken. Im zweiten Fall wurde das Arztzeugnis verspätet nachgereicht, und die finanziellen Verhältnisse der Mutter erforderten eine «substanzielle Reduktion der Busse».
Eltern freigesprochen wegen fehlender Beweise
Im Kanton Zürich wollten kürzlich Eltern die Ferien ihrer Kinder um drei Wochen verlängern. Doch die Schulpflege verweigerte ihnen dies. Also meldeten die Eltern ihre Kinder ganz vom Unterricht ab. Erlaubt ist das im Kanton Zürich ab zwölf Wochen Abwesenheit.
Die Familie war aber bereits nach zehn Wochen zurück und meldete die Kinder erneut an. Sie erklärten die frühere Rückkehr mit gesundheitlichen Gründen. Doch dies nahm ihnen die Behörde nicht ab. Die Eltern erhielten eine Anzeige, die sie umgehend anfochten. Mit Erfolg: Das Bezirksgericht strich die Busse und sprach die Eltern frei. Es gebe keinen Beweis, dass die Eltern die Schulpflege umgehen wollten.
Lehrerverband will Harmonisierung bei Bussenvergabe
Dass Handlungsbedarf bei der aktuellen Bussenpraxis besteht, stellt auch der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) fest. Beat A. Schwendimann, Leiter Pädagogische Arbeitsstelle des LCH, sagt: «In der Schweiz gibt es grosse Unterschiede in der Handhabung. Diese Uneinheitlichkeit kann zu Irritationen bei Eltern führen und das Vertrauensverhältnis zwischen Schule und Elternhaus belasten.»
Obwohl die Bildungshoheit bei den Kantonen liegt, empfiehlt der LCH «eine stärkere Harmonisierung der Bussenpraxis auf nationaler Ebene». «Bussen sollten nicht als erste Massnahme, sondern als letztes Mittel eingesetzt werden», so Schwendimann. Der LCH setze auf Dialog und gemeinsame Lösungen.
Reise nach Hamburg termingerecht gebucht
Die nächsten Sommerferien haben Amina Ghulam und ihre Kinder bereits geplant. Es geht mit dem Nachtzug nach Hamburg. Die Plätze sind gebucht – auf Sonntagnacht, nach Beginn der Ferien.