Die dunkle Seite von Snapchat
Erst kommen Nacktbilder, dann wird erpresst

Ein 15-Jähriger nimmt auf Snapchat eine Freundschaftsanfrage an. Er bekommt Nacktbilder zugeschickt – dann werden Hunderte Franken gefordert. Die «Täterin» ist 13.
Publiziert: 08.04.2025 um 16:42 Uhr
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Aktualisiert: 10.04.2025 um 08:44 Uhr
Der Fall zeigt die dunkle Seite von Snapchat.
Foto: Getty Images

Darum gehts

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Chantal Hebeisen
Beobachter

«SCHICK MIR JETZT 300 – ODER ICH WEISS, WO DU WOHNSCH!!» – Janosch (15) liegt auf seinem Bett, als ihn die Nachricht auf Snapchat erreicht. Die App ist bei Jugendlichen beliebt, sie tauschen darauf kurze Videos und Nachrichten aus, die nach 24 Stunden automatisch wieder gelöscht werden. Janoschs Mutter schaut nebenan fern.

Die Drohung kommt von Samira. Als Janosch ihr antwortet, er werde sie wegen Erpressung anzeigen, löscht sie alle Nachrichten. Schreibt aber noch, wenn Janosch nicht zahle, komme sie am nächsten Tag mit ein paar Typen vorbei: «Dann wirst du sehen …»

Er gerät in Panik

Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, schickt Samira ihm ein Foto eines Bahntickets zu ihm nach Hause, in ein 1000-Seelen-Dorf in der Deutschschweiz. Es ist Spätsommer 2023, nach ein paar regenreichen und kühlen Wochen ist es endlich wieder warm geworden. Janosch läuft panisch zur Haustür, zur Terrasse und zu den Fenstern im Erdgeschoss und überprüft, ob alles verriegelt ist.

Artikel aus dem «Beobachter»

Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.

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Dann wählt er den Notruf der Polizei. Der Beamte rät ihm, den Kontakt zu Samira abzubrechen – und kein Geld mehr zu schicken. Dann geht Janosch zur Mutter ins Zimmer – und erzählt ihr alles.

Janosch heisst in Wirklichkeit anders. Zu seinem Schutz sind hier alle Details verfremdet, die ihn und seine Familie erkennbar machen würden.

Snapchat-«Freundin» fordert Geld für Nacktbilder

In dieser Nacht wird Janosch kein Auge zutun. Ständig schaut er auf der Handy-App auf die Bilder der Überwachungskamera. «Ich hatte solche Angst, denn ich hatte meinen Standort auf Snapchat freigegeben. So wusste Samira genau, wo ich wohne», erinnert er sich.

Rückblende, ein paar Tage früher in diesem Sommer: Janosch erhält auf Snapchat eine Freundschaftsanfrage von Samira. «Ich dachte, es sei meine Schulkollegin.» Kaum hat er sie geaddet, schickt sie ihm Bilder: Frauenhintern in Tangas, unzensierte Fotos des Intimbereichs. Dann sendet sie eine Preisliste: «Nudes: 20 Fr = 20 Bilder 15 Videos, 45 Fr = 30 Bilder 25 Videos + 1 SexTape, Zahlung per Twint», dazu eine Schweizer Mobilnummer.

Doch Janosch genügt, was er zu sehen bekam. Er will keine weiteren Bilder: «Es war das erste Mal, dass ich solche Fotos erhalten habe, ich wusste nicht, was ich tun sollte.» Samira meldet sich wieder: «Geld schicken, oder es gibt Anzeige.» Als Minderjähriger habe er sich strafbar gemacht, weil er sich die Nacktbilder angesehen habe. «Ich hatte Angst, dass ich ins Gefängnis komme», sagt der Teenager. Also twintet er Samira über mehrere Tage hinweg Geld, insgesamt mehr als 300 Franken. Eigentlich wären diese Ersparnisse für sein Töffli vorgesehen gewesen; ein Puch Maxi. Es braucht dringend einen neuen Vergaser. «Ich wollte, dass das endlich aufhört, darum habe ich bezahlt, was sie gefordert hat», erzählt Janosch.

900 Franken vom Onkel erbettelt

Samira hat aber noch immer nicht genug. In jener Nacht, die für Janosch nicht enden will, fordert sie mehrere Hundert Franken. In seiner Not ruft er seinen Onkel an und bittet ihn, Geld zu twinten. Wofür, sagt Janosch ihm nicht – er schämt sich. «Mein Onkel hat eine leichte geistige Behinderung, darum wusste ich, dass er nicht nachfragen würde.» Der Onkel überweist in drei Tranchen insgesamt 920 Franken.

Am Tag, nach dem Janosch seiner Mutter alles gestanden hat, gehen die beiden zur Polizei. Sie erstatten Anzeige wegen Erpressung – gegen unbekannt.

Doch Samira war naiv. Weil sie sich das erpresste Geld via Twint an eine Schweizer Mobilnummer schicken liess, hat die Polizei sie rasch ausfindig gemacht. Es stellt sich heraus: Samira ist ein Bub aus einer Stadt im Mittelland. 13 Jahre alt. Der «Beobachter» kennt seine Identität. Um auch ihn zu schützen, nennen wir ihn Edin.

Edin hat Janosch nie gesehen. Sie kennen sich nicht. Janosch war ein reines Zufallsopfer. Und nicht das einzige: Im rechtskräftigen Strafbefehl steht, Edin habe bei mehreren Dutzend weiteren Geschädigten auf diese Weise Geld «erwirtschaftet». Die Jugendanwaltschaft erklärt ihn der gewerbsmässigen Erpressung für schuldig.

Anruf beim Vater des Erpressers

Der «Beobachter» kontaktiert Edins Vater telefonisch – seine Nummer steht im Internet. Er kann sich die Sache nicht erklären: «Wir waren total überrascht, als die Polizei bei uns klingelte. Edin ist ein ruhiger Bub, wir wissen nicht, warum er das getan hat.» Geldnot habe die Familie nicht, erzählt der 42-Jährige. Und Edin erhalte vom Grossvater immer Taschengeld.

Das Geld von Janosch und dessen Onkel ist weg – wie auch das der anderen Opfer. «Edin sagte, er habe einen Teil seinen Kollegen gegeben, sie sind zusammen im McDonald’s essen gegangen und haben Kleider gekauft», erzählt der Vater. Ob sein Sohn mit seinen Taten bei seinen Freunden Eindruck schinden oder ob er sich vielleicht mit dem Geld beliebt machen wollte, weiss er nicht. «Er ist nicht einsam, er hat ein paar Freunde.» Wurde er womöglich angestachelt? Auch darauf hat Edins Vater keine Antwort.

Weiterer Snapchat-Fall: 6000 Franken an Erpresser gezahlt

Anfang März wird der «Beobachter» auf einen weiteren Snapchat-Fall aufmerksam. Ist es Zufall, dass dieses Delikt auf der gleichen Plattform verübt wurde, oder ist Snapchat wegen der nur 24-stündigen Sichtbarkeit der Beiträge besonders attraktiv für Täter?

Ein junger Mann, nennen wir ihn Ben, wurde von einem Bekannten erpresst. Auch hier gab sich der Täter als junge Frau aus. «Sie» bat ihn um intime Fotos. Als das Opfer dem Wunsch nachkam, drohte «sie» ihm, die Aufnahmen weiterzuverbreiten, wenn er nicht bezahle. Insgesamt forderte der Täter über 6000 Franken. Und Ben bezahlte.

Wegen Erpressung verurteilt

Doch auch in diesem Fall flog die Sache schnell auf. Die Staatsanwaltschaft Bern verurteilte Bens Bekannten schliesslich wegen Erpressung zu einer bedingten Geldstrafe von 6000 Franken, bei einer Probezeit von zwei Jahren. Das erpresste Geld fordert Ben vom Täter per Abzahlungsvertrag zurück. Zudem muss der Täter eine Busse von 1200 Franken und die Verfahrenskosten bezahlen.

Wie Ben gegenüber dem «Beobachter» sagt, war er bereits ein paar Monate zuvor auf ähnliche Art erpresst worden. Diese Tat hat Ben aber nie angezeigt. Die mehreren Tausend Franken Erpressungsgeld, die er damals bezahlte, hat er aus seinem Gedächtnis gestrichen – «damit ich mich nicht mehr ärgere».

Die Frage stellt sich: Kommen diese Snapchat-Delikte häufig vor? Und wenn ja, ist die Masche auf dem Vormarsch?

Die Kantonspolizei Zürich, die eine eigene Cybercrime-Abteilung hat, schreibt auf Anfrage, es lägen keine Zahlen zu Delikten auf einzelnen Online-Plattformen vor. Die Berner Polizei schreibt, ihnen seien in den vergangenen zwei Jahren ein paar wenige Fälle auf Social Media gemeldet worden, am häufigsten im Zusammenhang mit Instagram. «Die gemeldeten Fälle von Sextortion zeigen aber keine steigende Tendenz, wir stellen darum keine aussergewöhnliche Situation in unserem Kanton fest.»

Der Vater des Täters zeigt sich zugeknöpft

Zurück zum ersten Fall – und damit zu Janosch und dem 13-jährigen Edin: Nachdem die Jugendanwaltschaft den Jungen schuldig gesprochen hatte, forderten Janosch und seine Mutter den Vater von Edin in einem Brief auf, das erpresste Geld zurückzuzahlen.

Weil Edins Familie nicht darauf reagierte, schoben sie eine Betreibung nach. Auch darauf reagierte Edins Familie wochenlang nicht. Erst auf Rückfrage des «Beobachters» versichert Edins Vater, dass er alles zurückzahlen werde – was er inzwischen getan hat.

«Wir überprüfen sein Bankkonto und sein Handy»

Ob auch Edins andere Opfer ihr Geld zurückerhalten werden, bleibt offen. Sein Vater bestreitet zuerst, dass es überhaupt weitere gibt – auch wenn der Strafbefehl etwas anderes bestätigt. Darauf angesprochen, meint der Vater nur: «Ich muss jetzt zurück zur Arbeit.»

Der «Beobachter» hätte gern mit Edin persönlich geredet. Ihn gefragt, was ihn dazu bewog, anderen Jugendlichen ihr Taschengeld abzuknöpfen. Und wie er auf diese fiese Snapchat-Masche gekommen ist. Doch sein Vater lehnte mehrere Bitten um ein solches Gespräch ab. Er versicherte aber, dass jetzt Schluss sei mit Edins Masche: «Meine Frau und ich überprüfen sein Bankkonto und sein Handy.»

«Bin sehr vorsichtig geworden»

Janosch hat die Sache nicht so leicht weggesteckt. «Ich bin sehr vorsichtig geworden, und auf Snapchat nehme ich nur Anfragen von Leuten an, deren Telefonnummer ich kenne.» Noch heute ist es ihm sichtlich unangenehm, über das Vorgefallene zu reden. Am liebsten will er «das alles» hinter sich lassen, einfach vergessen.

Seine Mutter würde es ihm gönnen. Doch gleichzeitig ist ihr wichtig, dass die Öffentlichkeit erfährt, wie Jugendliche andere Jugendliche in den sozialen Medien abzocken. Deshalb hatte sie ihren Sohn überzeugt, überhaupt erst mit dem «Beobachter» darüber zu reden. «Damit andere Familien nicht das Gleiche durchleben müssen wie wir.»

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