Judenfeindliche Übergriffe an Schulen
«Ich gebe dir 10 Sekunden, dann bist du tot»

Drohungen, Beschimpfungen, Mobbing: In den letzten Monaten kam es an Schweizer Schulen zu zahlreichen Übergriffen auf Jüdinnen und Juden. Der Israelitische Gemeindebund sagt, das Problem habe sich massiv verschärft.
Publiziert: 09.03.2024 um 18:17 Uhr
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Aktualisiert: 10.03.2024 um 09:18 Uhr
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Am Samstag vor einer Woche attackierte ein 15-Jähriger im Zürcher Kreis 2 einen orthodoxen Juden mit einem Messer und verletzte ihn schwer.
Foto: Keystone

Ein Sommertag 2023: Josua* (14) hat Angst. Seit wenigen Tagen besucht er in Zürich eine neue Schule. Ein muslimischer Klassenkamerad sagt zu ihm: «Wenn der Unterricht vorbei ist, gebe ich dir zehn Sekunden, um zu rennen – dann bist du tot.»

Josua weiss: Der Grund für die Drohung ist seine Religion, er ist Jude. Seine Eltern stammen aus Israel, seit fünf Jahren lebt die Familie in der Schweiz.

Nun sitzt er da, Panik ergreift ihn. Josua ruft seinen Vater an. Lehrpersonen begleiten ihn zur Tramhaltestelle, damit er sicher nach Hause kommt. Der Junge, der die Drohung ausgestossen hat – und vor der Schule auf ihn wartete –, ist 15 Jahre alt. Er bezeichnet sich als Hamas-Unterstützer, konsumiert Terrorpropaganda im Internet.

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15 Jahre alt und Konsument islamistischer Propaganda ist auch A. H.** Vor wenigen Tagen stach er mit einem Messer 15-mal auf einen orthodoxen Juden im Zürcher Selnau-Quartier ein. Der 50-jährige Familienvater überlebte nur knapp. Der Teenager-Terrorist hatte dem Islamischen Staat (IS) Treue geschworen und in einem Video angekündigt, «so viele Juden wie möglich» töten zu wollen. Jetzt sitzt er in U-Haft.

Die Schule habe zu wenig unternommen

Sein Angriff löste eine Debatte über Online-Radikalisierung und die Grenzen des Jugendstrafrechts aus. Der parteilose Regierungsrat Mario Fehr forderte, dem Täter das Schweizer Bürgerrecht zu entziehen.

Der jüdische Schüler Josua ging nach dem Vorfall im Sommer weiter zum Unterricht, in seinem Fall blieb es bei der Drohung. Doch einige Mitschüler machten ihm klar: In diesem Schulhaus sei man «auf der Seite der Palästinenser». Nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober nahmen die Eltern ihren Sohn von der privaten Tagesschule. «Leider gingen wir damals nicht zur Polizei», sagt Josuas Vater heute. Er bereue das, denn die Schule selbst habe zu wenig unternommen.

Die Schulleiterin sieht es anders. Zwar bestätigt sie den Vorfall und sagt: «Der Übergriff war ganz klar antisemitisch motiviert.» Sie betont aber auch, dass man danach «intensive» Gespräche mit Eltern und Kindern geführt habe. Der muslimische Schüler habe sich daraufhin bei Josua entschuldigt. Antisemitismus sei zudem immer wieder Thema im Unterricht – was die Schulleiterin als «sehr anspruchsvoll» bezeichnet: «Viele Schülerinnen und Schüler haben sich in sozialen Medien Halbwissen zum Nahostkonflikt angeeignet.»

Sporttag wurde abgesagt

Angriffe wie den auf Josua gibt es viele. Die Eskalation im Nahen Osten hat zu einer Reihe von judenfeindlichen Vorfällen an Schulen geführt. Viele davon hatten zur Folge, dass eine jüdische Schülerin oder ein jüdischer Schüler die Klasse oder gar die Schule wechseln musste.

SonntagsBlick weiss von Fällen in mehreren Kantonen. Im Dezember etwa eskalierte ein Konflikt an einer öffentlichen Primarschule in Zürich: Ein Spiel- und Sporttag musste abgesagt werden, weil die Stimmung unter den Schülern aufgeheizt war. Ein jüdisches Mädchen wurde massiv gemobbt.

Marc Caprez, Sprecher des Schul- und Sportamtes der Stadt, bestätigt den Vorfall. Man habe ihn gemeinsam mit der Fachstelle für Gewaltprävention sowie dem Jugenddienst der Stadtpolizei und anderen Fachpersonen aufgearbeitet: «Die Schulleitung hat vorbildlich reagiert.» Ähnliche Übergriffe seien ihm nicht bekannt.

Letzte Woche warnte eine Gruppe jüdischer Eltern aus Bern, die Schulen entwickelten sich zu einem Brennpunkt des Antisemitismus. Wie die Tamedia-Zeitungen berichteten, forderten sie die Stadt Bern in einem Brief zu einem verstärkten Engagement gegen Judenfeindlichkeit auf. Antisemitische Vorfälle an Schulen hätten ein «nie dagewesenes Ausmass» erreicht.

«Israel muss sterben», schrien Schüler

Zum gleichen Schluss kommt ein Bericht der Westschweizer Organisation Cicad. Auf einigen Pausenplätzen sei «Jude» zum Schimpfwort geworden, in Whatsapp-Klassenchats seien Memes von Hitler und dem Dritten Reich beliebt. Auf einem Schulhof in der Romandie wurden jüdische Schülerinnen und Schüler mit der Parole «Israel should die» niedergeschrien, «Israel muss sterben».

Sind es Einzelfälle oder haben Schweizer Schulen ein Antisemitismus-Problem? Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG): «Uns wurden zahlreiche antisemitische Beschimpfungen und regelrechtes Mobbing gegenüber jüdischen und israelischen Schülerinnen und Schülern gemeldet.»

Seit dem 7. Oktober habe sich das Problem «massiv verschärft». Jüdinnen und Juden würden in der Schule «pauschal» und «völlig ungerechtfertigt» für den Krieg in Gaza verantwortlich gemacht. Der SIG geht von einer hohen Dunkelziffer aus.

In Basel-Stadt gingen seit dem Massaker der Hamas 15 Meldungen von antisemitischen Vorfällen an Schulen ein. Es handle sich um Provokationen, Beleidigungen und antisemitische Parolen, sagt Gaudenz Wacker, Sprecher beim Erziehungsdepartement.

Kindern beibringen, Konflikte zu lösen

Den Bildungsdirektionen der Kantone Aargau und St. Gallen hingegen sind keine antisemitischen Vorfälle im Zusammenhang mit der Eskalation im Nahen Osten bekannt. Im Aargau schätzt man die Problematik als gering ein, wie Philipp Grolimund schreibt, Co-Präsident des Schulleiterverbands. Der Kanton Bern will sich zur Anzahl der Vorfälle und einem allfälligen Anstieg gar nicht erst äussern.

Thomas Minder, Präsident der Schweizer Schulleiter, stellt fest: «Schulen sind generell genauso wenig eine gewaltfreie Umgebung wie Sportvereine oder andere Orte, wo viele Menschen zusammenkommen.» Antisemitismus sei dabei nur ein Aspekt von Fremdenfeindlichkeit, und diese wiederum nur ein Teil der Intoleranz.

«In der Schule geht es uns primär darum, Schülerinnen und Schülern Toleranz als Wert mit auf den Weg zu geben», sagt Minder. Man versuche, den Kindern von klein auf Instrumente und Methoden beizubringen, um Konflikte konstruktiv und nachhaltig lösen zu können. «Oft gelingt das.»

Jonathan Kreutner vom Israelitischen Gemeindebund findet es wichtig, dass Bund und Kantone zivilgesellschaftliches Engagement unterstützen und in die Prävention investieren. Klar ist für ihn: «Bei antisemitischem Mobbing und Gewalt muss an Schulen Nulltoleranz herrschen.» Die Angreifer müssten spürbare Konsequenzen erfahren. Nicht die Opfer sollten die Schule verlassen, sondern die Täter.

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