Der Angriff hat nicht nur die jüdische Gemeinschaft erschüttert. Am Samstagabend hat ein 15-Jähriger in Zürich einen orthodoxen Juden (50) mit einem Messer attackiert und schwer verletzt. «Ich bin hier, um Juden zu töten», hat der Jugendliche Zeugen zufolge gerufen. Beim mutmasslichen Täter soll es sich um einen Schweizer mit tunesischen Wurzeln handeln.
Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) spricht von einer neuen, «erschreckenden Eskalationsstufe», den der zunehmende Antisemitismus in der Schweiz erreicht habe. Allein in den ersten zwei Wochen nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 waren 26 Meldungen von erlebtem Antisemitismus beim SIG eingegangen. Im ganzen Jahr 2022 waren es 57 Vorfälle.
«Schockiert» über die neuste Attacke zeigt sich auch Bundespräsidentin Viola Amherd (61). «Ich denke an den verletzten Mann und unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger», schreibt sie auf X. «Antisemitismus hat keinen Platz in der Schweiz.» Die Justiz müsse nun die Fakten klären.
Parlament will vom Bund Taten sehen
Auch die Politik sieht Handlungsbedarf. Am kommenden Donnerstag entscheidet der Nationalrat, ob der Bund eine Strategie und einen Aktionsplan gegen Antisemitismus und Rassismus ausarbeiten muss. Die Fachstelle für Rassismusbekämpfung soll gestärkt werden. Und der Bund soll prüfen, ob auf nationaler Ebene ein Beauftragter oder eine Beauftragte für Rassismus- und Antisemitismusbekämpfung eingesetzt werden soll.
Die Forderung der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats geht auf einen Vorstoss der Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan (43) zurück. Sagenhafte 108 Parlamentarierinnen und Parlamentarier – vor allem von links, aber auch von rechts – hatten ihn vor zwei Jahren mitunterzeichnet.
«Die Schweiz muss mehr tun»
Es sei höchste Zeit, endlich aktiv zu werden, sagt Arslan. Sie wirft dem Bundesrat eine Verweigerungshaltung vor. So hat die Regierung einen Aktionsplan – trotz der Nationalrats-Mehrheit, die sich dafür aussprach – vor zwei Jahren nicht für nötig gehalten. Inzwischen hat er seine Meinung geändert.
Die Schweiz tue zu wenig, um Antisemitismus an der Wurzel zu packen, findet Arslan. «Das Problem wird nicht gelöst, indem darüber geschwiegen wird.»
Auch Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (60) sieht die Behörden in der Pflicht. Aus ihrer Sicht braucht es vor allem mehr Sensibilisierung. Sie unterstützt zudem einen Vorstoss der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats, der im Speziellen die aussenpolitische Dimension des Problems Antisemitismus beleuchten will. Dieser wird ebenfalls diese Woche im Parlament diskutiert. «Die Schweiz muss national wie international mehr zur Bekämpfung von Antisemitismus tun», sagt Schneider-Schneiter.
SVP ist dagegen
Angesichts der breiten Unterstützung dürfte das Ja des Nationalrats Formsache sein. Einzig die SVP stellt sich dagegen – obwohl einzelne SVP-Vertreter die Forderung einst mitunterzeichnet hatten. Was am Wochenende in Zürich passiert sei, sei «dramatisch», sagt der Zürcher SVP-Nationalrat Benjamin Fischer (32). «So etwas darf es nicht geben.»
Doch ein Aktionsplan bringe nichts, schliesslich gebe es schon entsprechende Fachstellen. Aus Sicht der SVP handelt es sich bei Antisemitismus einerseits um ein «importiertes Problem», Stichwort Zuwanderung. Andererseits wird den Linken Heuchelei vorgeworfen, da vor allem in ihren Reihen Antisemitismus vorhanden sei.
«Antisemitismus gibt es in allen Milieus»
Jonathan Kreutner, Generalsekretär des SIG, sieht das anders. Man dürfe nicht pauschalisieren. «Antisemitismus gibt es in allen Milieus.» Er moniert, dass der Bund mehr machen könne im Kampf gegen Judenhass.
Konkreten Handlungsbedarf sieht Kreutner bei der Erfassung von antisemitischen Vorfällen, bei der Prävention und bei der rechtlichen Handhabe gegen Täter. Die Meldestellen für antisemitische Vorfälle beispielsweise erhalten heute keine regelmässige Unterstützung vom Bund. «Er muss sich stärker einbringen – zumindest finanziell.»