Wiedlisbach BE, gleich neben der Autobahn A1: Eigentlich wollte Familie Bruns am Samstag ins Hallenbad. Tochter Mailey Sue (10) schwimmt im Verein, Mutter Susann ist Trainerin. Am Samstag wäre Junioren-Wettkampf gewesen.
Nur: Am Abend zuvor kam Mailey Sue mit Übelkeit von der Schule nach Hause. Ein Test bestätigte, was Susann Bruns bereits ahnte: Corona-positiv. Das Schwimmen ging baden. Die Folgen waren Isolation, Fernunterricht – und eine Riesenenttäuschung.
Das gleiche Bild ein Dorf weiter, in Aarwangen BE: Auch Familie M.* ist gerade in den eigenen vier Wänden gefangen. Isolation gilt offenbar als Stigma, weshalb die Familie ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will – wie so viele, mit denen SonntagsBlick in diesen Tagen sprach.
«Drei Kinder zu isolieren, ist fast nicht möglich», sagt die Mutter. Trotz zweifacher Impfung hat es nun auch noch sie selbst getroffen. Es ist eine schwierige Zeit: «Ohne Samichlaus, ohne anderen Kontakt zu haben – und dies in der Adventszeit –, das ist schwer zu ertragen.»
Familien drohen auseinanderzubrechen
Die Corona-Zahlen in der Schweiz steigen rasant, vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Weit über ein Drittel aller Infizierten hierzulande, ein neuer Höchststand, ist jünger als 19 Jahre. Allein in Basel sitzen laut offiziellen Angaben 773 Schüler in Selbstisolation (weil infiziert) oder in Quarantäne (weil möglicher Kontakt zu einem Infizierten), ebenso 111 Lehrer. Im Aargau sind 46 Klassen in Quarantäne, meldete die Kantonsregierung am Freitag. Die Zürcher Volksschule schickte allein diese Woche rund 3000 Schüler in Quarantäne. Andere Kantone haben längst den Überblick verloren. Fest steht: Schweizweit trifft es zig Tausende. An schulischen Normalbetrieb ist nicht zu denken. Das System steht vor dem Kollaps.
Bern und Aargau streichen bereits die Segel und entlassen ihre Schüler früher in die Weihnachtsferien. «An den Schulen sind die Fallzahlen so hoch wie nie zuvor», so Christine Häsler, Berns Bildungsdirektorin, am Freitag.
Fernunterricht und Lagerkoller: Bei vielen Eltern liegen die Nerven blank. «Der Sohn muss in Quarantäne bleiben, die Tochter trifft sich abends spät zur Studentenparty, die Eltern sind zurück im Homeoffice und streiten sich über die Erziehung», fast die Zürcher Paar- und Familientherapeutin Margareta Hofmann den typischen Familienalltag zusammen. Die neue Variante Omikron trage zusätzlich zur Verunsicherung bei, hinter der nächsten Welle warte die vollständige Erschöpfung. Immerhin stellt Hofmann bei vielen Eltern eine hohe Anpassungsfähigkeit fest.
Bei Christine Harzheim, Familientherapeutin aus Bern, melden sich derzeit wieder mehr Eltern: Viele stossen an ihre Belastungsgrenze, oft fehle der Raum und die Möglichkeit, die Akkus wieder aufzuladen. Harzheim: «Eltern merken, dass auch ihre Paarbeziehung belastet ist, und haben Angst, dass die Familie auseinanderbricht.» Bei den Kindern diagnostiziert die Therapeutin unter anderem Einschlafschwierigkeiten, Ängstlichkeit und Wutanfälle.
Long Covid bei Kleinen?
Ortswechsel zur Zürcher Europaallee: Apothekerin Natalia Blarer ist im Teststress. An manchen Tagen stamme jeder dritte Infizierte aus einer Schule. «Jetzt kommt Panik auf, viele Eltern sind zum ersten Mal mit einem positiven Test konfrontiert.» Manche klingeln dann bei ihr Sturm, andere rufen ohne Unterlass das Labor an. Blarer: «Es gibt Familien, die jede Woche testen müssen, weil eines der Kinder ein Verdachtsfall ist.»
Das Klassenzimmer als Virenherd: Rudolf Hauri, oberster Kantonsarzt, spricht von einer «neuen Dimension». Es falle auf, dass mittlerweile die Jüngsten das Virus in die Familien trügen. «Die Kinder spielen jetzt bei der Verbreitung des Virus eine beachtliche Rolle.» Tatsache ist aber auch, dass das Virus Kindern weniger anhaben kann als Erwachsenen.
Neben der Möglichkeit, selbst angesteckt zu werden, fürchten Eltern insbesondere Langzeitfolgen, das sogenannte Long Covid. Noch ist die Datenlage dünn. Laut Weltgesundheitsorganisationen (WHO) deuten zwölf Symptome auf Long Covid bei Kindern hin. Zu den häufigsten zählen Müdigkeit, Kurzatmigkeit und kognitive Störungen. Sind die Symptome nach drei Monaten nicht abgeklungen, sprechen Ärzte von Long Covid. Schätzungen gehen davon aus, dass zwei bis vier Prozent der Erkrankten davon betroffen sind.
Fachleute sind sich deshalb einig: Auch die Kinder sollen geimpft werden. Besonders gilt dies für solche mit schweren chronischen Krankheiten. In der Schweiz wurden bislang rund 400'000 Kinder und Jugendliche zwischen zwölf und 19 Jahren immunisiert. Wie bei den Erwachsenen stagniert aber auch hier das Impftempo.
«Kinder zu impfen, ist nicht ganz einfach»
Am Freitag gab die Heilmittelbehörde Swissmedic den Impfstoff von Biontech/Pfizer für Kinder ab fünf Jahren frei. Für das Vakzin von Moderna steht die Zulassung noch aus. Jede Freigabe ist eine gute Nachricht, erzeugt aber zusätzlichen Druck für die Eltern: Lass ich mein Kind impfen oder nicht? Darüber wird an vielen Küchentischen gestritten.
Marc Sidler, Präsident von Kinderärzte Schweiz, sagt: «Kinder zu impfen, ist nicht ganz einfach. Sie brauchen mehr Zeit, haben Ängste – das geht nicht ruck, zuck wie bei den Erwachsenen.» Darauf müssten sich Ärzte und Impfzentren aber einstellen. «Jetzt sind die Kantone gefordert: Sie müssen so schnell wie möglich das entsprechende Personal rekrutieren und die Infrastruktur aufbauen.»
Wie sich die Pandemie weiterentwickelt, hängt auch von Omikron ab. In Schottland geht bereits mehr als die Hälfte der Infektionen auf die neue Variante zurück. In der Schweiz dürfte Omikron spätestens Anfang Januar dominieren, sagt Anne Lévy, Chefin des Bundesamts für Gesundheit, im Interview.
Da liegt der Verdacht nahe, dass die Ansteckungsrate nun auch bei Kindern und Jugendlichen erneut an Tempo zulegen wird. Aber wie gefährlich ist Omikron für Kinder?
Noch keine Todesfälle durch Omikron
Anruf bei Mignon McCulloch, oberste Kinderärztin in Südafrika, dem Land, wo die neue Variante erstmals sequenziert wurde, wo sich die Infektionszahlen täglich verdoppeln. McCulloch bestätigt: «Wir registrieren mehr Krankenhaus-Einlieferungen von Kindern.»
Dennoch rät sie den europäischen Staaten, nicht in Panik zu verfallen. In Südafrika sei bislang noch kein Kind an der neuen Virusvariante gestorben. «Es ist nicht so, dass jetzt gerade Hunderte Kinder an der Lungenmaschine hängen», sagt die Medizinerin aus Kapstadt.
Dass sich in Südafrika so viele Kinder anstecken, liege auch an der Demografie: «30 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 14 Jahre », sagt McCulloch. Aber man bleibe auf der Hut.
Zurück in die Schweiz, kurz vor Weihnachten, mitten in der fünften Welle: Der Bundesrat schraubt an der nächsten Verschärfung, von Genf bis Romanshorn TG sitzen Tausende in Quarantäne. Wie Familie A.* aus der Ostschweiz. Zehn Tage Stubenhocken haben die fünf hinter sich. Langweilige Tage seien es gewesen, «mit viel Streit», erinnert sich der Vater: «Ich fand es nicht schön.»
Viele Schweizer Eltern wissen genau, was Herr A. meint.
* Namen bekannt