BAG-Chefin Anne Lévy im Interview
«Für Ungeimpfte fehlt mir das Verständnis»

Im ersten Zeitungsinterview seit dem Sommer redet die Direktorin des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) über die aktuelle Corona-Lage und sagt, was sie von 2G und einer Impfpflicht hält.
Publiziert: 12.12.2021 um 00:37 Uhr
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Aktualisiert: 12.12.2021 um 07:57 Uhr
  • «Für Ungeimpfte fehlt mir das Verständnis»
  • «Omikron könnte schon Anfang Jahr dominieren»
  • «Ein Impfobligatorium ist kein Thema»
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Seit einem Jahr steuert Anne Lévy das Bundesamt für Gesundheit (BAG) durch die Krise.
Foto: Thomas Meier
Interview: Fabian Eberhard

Frau Lévy, vor fast genau einem Jahr führten wir schon einmal ein Gespräch. Das Interview von damals könnte man heute beinahe eins zu eins erneut abdrucken. Die Situation hat sich kaum geändert.
Anne Lévy: Doch! Es gibt einen grossen Unterschied. Damals hatten wir noch keine Impfung. Vor einem Jahr mussten wir das Gespräch via Skype führen, heute können wir uns dank des Zertifikats persönlich treffen.

Trotzdem haben wir so viele Fälle wie noch nie seit Pandemiebeginn.
Die Fallzahlen sind zwar höher, die Hospitalisationen und Todesfälle aber deutlich tiefer als in früheren Wellen. Ein eindrücklicher Effekt der Impfung.

Aber die Spitaleinweisungen nehmen zu. Die Taskforce rechnet damit, dass die Spitäler noch im Dezember an ihre Belastungsgrenze kommen. Viele Intensivstationen sind bereits voll.
Ja, es sieht aktuell nicht gut aus. Und jetzt kommt die neue Variante Omikron hinzu. Die macht mir wirklich grosse Sorgen.

Inwiefern?
Wie es scheint, umgeht Omikron den Impfschutz, wenn die Impfung länger zurückliegt, und ist noch einmal sehr viel ansteckender als Delta. Aus epidemiologischer Sicht werden schnelle Massnahmen jetzt noch drängender.

Es gibt aber auch Hinweise, dass Omikron mildere Verläufe verursacht.
Ich hoffe, dass sich das bestätigt. Aber auch wenn wir von einem milderen Verlauf ausgehen, werden sich die Spitäler füllen, falls diese Variante so ansteckend ist, wie aktuell befürchtet wird. Die Menge von Ansteckungen wird so gross sein, dass eine Überlastung der Intensivstationen droht. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass wir die jetzige Deltawelle möglichst rasch brechen. Es braucht Platz in den Spitälern. Wenn Omikron übernimmt, müssen wir bereit sein.

Persönlich

Anne Lévy (49) trat ihr Amt als Direktorin des Bundesamts für Gesundheit (BAG) am 1. Oktober 2020 an. Seit dem Abschluss ihres Studiums der Politikwissenschaften war sie in verschiedenen Positionen im Gesundheitswesen tätig – zuletzt als Geschäftsführerin der Universitären Psychiatrischen Klinik Basel. Ihr Amt beim Bund ist eine Rückkehr: Bis 2009 leitete Lévy die BAG-Sektion Alkohol und Tabak.

Anne Lévy (49) trat ihr Amt als Direktorin des Bundesamts für Gesundheit (BAG) am 1. Oktober 2020 an. Seit dem Abschluss ihres Studiums der Politikwissenschaften war sie in verschiedenen Positionen im Gesundheitswesen tätig – zuletzt als Geschäftsführerin der Universitären Psychiatrischen Klinik Basel. Ihr Amt beim Bund ist eine Rückkehr: Bis 2009 leitete Lévy die BAG-Sektion Alkohol und Tabak.

Wann wird das der Fall sein?
Wir rechnen damit, dass die Variante spätestens Anfang Jahr das Geschehen dominieren könnte, eventuell auch schon früher. Und gleichzeitig wird dann auch Delta noch aktiv sein.

Am Freitag hat der Bundesrat neue Massnahmen in die Konsultation geschickt. So gut wie sicher ist: Bald gilt auch in der Schweiz flächendeckend die 2G-Regel. Begrüssen Sie das?
Angesichts der steigenden Zahlen kommen wir wohl nicht darum herum. Die Regel bietet Geimpften und Genesenen ein Stück weit Sicherheit, und wir schützen Getestete, weil diese sich dann nicht mehr so leicht anstecken.

Gleichzeitig werden Hunderttausende Menschen vom öffentlichen Leben praktisch ausgeschlossen.
In den vergangenen Wochen sind so viele Ungeimpfte in den Spitälern gelandet, dass die 3G-Regelung keine Option mehr ist. Kommt hinzu: Leute, die geimpft sind, sind weniger bereit, auf ein einigermassen normales Leben zu verzichten.

Können wir die Welle ohne Schliessungen brechen?
Ob es Schliessungen braucht, hängt vom Infektionsverlauf, also vom Verhalten von uns allen ab. Ich hoffe, dass wir sie vermeiden können. Wichtig bleibt: Masken tragen, Handhygiene, möglichst wenige Menschen treffen und natürlich das Impfen.

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Es bleibt das Gefühl, dass der Bundesrat zu zögerlich handelt. Frühere Wellen haben uns gelehrt: Tempo ist alles, abwarten tödlich.
Die Schweiz hat stets einen guten Mittelweg zwischen Massnahmen und Normalität gefunden. Und wenn notwendig, hat der Bundesrat jeweils sehr rasch reagiert und Einschränkungen beschlossen. Ich finde das richtig. Entscheidend ist am Ende das Verhalten der Menschen im Alltag. Und die meisten verhalten sich weiterhin vorbildlich.

Es gäbe aber doch Massnahmen, die niemandem wehtun und trotzdem helfen würden. Eine Testpflicht für Schulen zum Beispiel. Darauf hat der Bundesrat verzichtet.
Das wäre wohl eine sinnvolle Massnahme, aber die Schulen sind in kantonaler Hoheit. Und die Mehrheit der Kantone hat sich dagegen ausgesprochen. Ich verstehe das nicht, denn wir wissen, dass Schultestungen helfen, Ansteckungen zu verhindern.

Auch das ist ein Déjà-vu. Kantone und Bund schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Warum übernimmt der Bund nicht den Lead?
Der Bundesrat übernimmt immer, wenn es nationale Massnahmen braucht, wie wir mit den Entscheiden der Bundesratssitzung vom Freitag gesehen haben.

Der Bundesrat könnte sehr viel schneller handeln und wieder die ausserordentliche Lage ausrufen.
Ich glaube nicht, dass das jemand will. Es wäre schade, wenn wir wieder darauf verzichten würden, die Kantone vorher zu konsultieren. Zudem haben wir heute ein System, mit dem wir solche Vernehmlassungen innert weniger Tage durchführen können.

Sie haben es angesprochen, die grosse Hoffnung ist die Impfung. Das Problem ist: Die Schweiz hat eine der tiefsten Impfraten Westeuropas. Verstehen Sie Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen?
Nein. Für Ungeimpfte fehlt mir das Verständnis. Die Impfung schützt nicht nur sehr gut vor einer Erkrankung, sondern ist auch der Ausweg aus dieser Pandemie. Wären 95 Prozent der Bevölkerung, die sich impfen lassen können, geimpft, dann hätten wir nur noch wenige Hospitalisationen. Auf den Intensivstationen liegen fast nur Ungeimpfte.

Wäre ein Impfobligatorium die Lösung?
Die Impfung ist eine private Entscheidung, und das soll so bleiben. Ein Obligatorium ist aktuell kein Thema.

Diese Haltung ist doch realitätsfern.
Denken Sie denn, es würde einen Unterschied machen? Ich glaube nicht, dass wir mit einem Obligatorium viele Impfgegner zum Umdenken bringen. Dem Staat bleibt nichts anderes übrig, als ihren Entscheid zu akzeptieren.

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Während sich die einen gar nicht impfen, kriegen andere bereits den Booster. Allerdings hinkt die Schweiz auch da hinterher.
Uns war wichtig, den Prüfprozess für die Zulassung der Impfstoffe korrekt einzuhalten. Sobald Swissmedic die Auffrischimpfung zugelassen hatte, haben wir sofort begonnen zu impfen. Nun ist bereits über eine Million Menschen zum dritten Mal geimpft. Es geht also vorwärts. Jetzt sind die Kantone in der Pflicht, rasch zu verimpfen. Wir müssen alles daransetzen, dass die Personen, die das möchten, sechs Monate nach der letzten Impfdosis ihre Auffrischimpfung erhalten.

Einige Kantone sprechen bereits von Engpässen.
Diejenigen Kantone, die Mühe haben, Personal zu finden, werden jetzt von Angehörigen der Armee unterstützt. Ich freue mich, dass das Interesse an der Auffrischimpfung so gross ist. Und Impfstoff ist genügend vorhanden.

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