Donnerstagnachmittag in der Bäckeranlage, einem Park im Zürcher Kreis 4. Stefan (54) trägt einen schwarzen Pullover, in der einen Hand hält er eine Bierdose. «Ich habe oft Kopfschmerzen wegen der Hitze», sagt er. Aber er gehe trotzdem raus, auch wenn es heiss sei: «Ich finde es schön, Leute zu treffen, die ich kenne, und mit ihnen zu diskutieren.» Stefan lebt an der Neufrankengasse in einer sozialen Einrichtung der Stadt für sucht- und psychisch kranke Menschen. Ein längeres Gespräch mit ihm ist schwierig. Er begrüsst die Gassenarbeiter Rémy Guillaume und Karin Verga und nimmt das Wasser, das sie ihm reichen, dankbar an.
Guillaume und Verga wissen genau, wo sich ihre Klientel aufhält. Ein grosser Pin des Sozialwerks Pfarrer Sieber klebt gut sichtbar an ihren Rucksäcken. Die meisten «auf der Gasse» kennen sie sowieso.
Ein Mann fährt auf seinem Fahrrad durch die Rolandstrasse, bremst ab und grüsst die beiden. Wann die Sunestube wieder geöffnet sei, will er wissen.
Das Gassencafé Sunestube ist eines der Angebote des Sozialwerks. Dort können Menschen gratis essen, trinken und verweilen. Wegen Renovierung war es letzte Woche geschlossen. Verga und Guillaume sind zusammen auf Gassentour. Für Verga ist es das erste Mal. Guillaume leitet die aufsuchende Gassenarbeit. Seit dreieinhalb Jahren zieht er durch die Zürcher Strassen, sucht Menschen auf und berät sie. «Beziehungsarbeit ist wichtig», sagt er. Ohne Vertrauen könne er nicht helfen.
Auch in der Schweiz gibt es immer mehr Hitzetote
Die erste Juliwoche war laut Weltwetterorganisation weltweit die heisseste Woche, die je gemessen wurde. In der Schweiz wurde die 35-Grad-Marke geknackt. Der Grossteil von Guillaumes und Vergas Klientel konnte sich nicht in heruntergekühlte Büros oder Wohnungen zurückziehen, denn viele davon leben auf der Strasse. Deshalb sind die Rucksäcke der beiden vollgepackt mit Wasserflaschen und kleinen Beuteln, gefüllt mit Sonnencreme, Pflastern, Taschentüchern und Powerriegeln. In allen Einrichtungen des Sozialwerks gibt es zudem seit zwei Wochen Sonnencreme und Paletten mit Wasserflaschen, welche die Gäste mitnehmen können.
Hitzetage gibt es in der Schweiz immer mehr – und mit ihnen auch Hitzetote. Laut einem Bericht des Bundesamts für Umwelt starben im letzten Jahr 500 Menschen an den Folgen der Hitze. Für obdachlose Menschen ist die Hitze eine grosse Belastung. Letzten Sommer seien manche kollabiert, hätten ins Spital gebracht werden müssen – zu viel Sonne, zu wenig Schlaf und Wasser in Kombination mit Alkohol- oder Drogenkonsum. Diesen Sommer mussten sie zum Glück noch niemanden ins Spital bringen, sagt Guillaume.
Rémy Guillaume und Karin Verga gehen weiter durch den Park. «Je weiter weg vom Eingang der Bäckeranlage, desto härter sind die Drogen, die konsumiert werden», sagt Guillaume.
Eine Gruppe Männer sitzt auf den Bänken am westlichen Rand des Parks. Hinter ihnen rattert das Achter-Tram vorbei. Am Boden stehen mehrere offene Feldschlösschen-Dosen. Die Stimmung ist aufgeheizt, die Männer diskutieren wild. Sie begrüssen Guillaume und Verga aber freundlich. Einer von ihnen hat eine offene Wunde. Guillaume gibt ihm ein Kärtchen mit der Adresse eines Ambulatoriums, beschreibt den Weg. Ein anderer sucht eine Wohnung, sein Haus werde abgerissen. Guillaume sucht im Handy einen entsprechenden Kontakt der Stadt.
«Der Alkoholpegel ist hoch, die Abende länger.»
Das Konfliktpotenzial sei im Sommer höher, sagt der Gassenarbeiter. «Unsere Klienten sind viel draussen, der Alkoholpegel ist hoch, die Abende länger.» Nicht besser macht die Situation, dass die Notschlafstellen von Pfarrer Sieber in der Sommerpause sind. Einzig die Notschlafstelle «Nemo» für Jugendliche und die städtische Notschlafstelle sind in den Sommermonaten geöffnet – wer in Letzterer schlafen will, muss allerdings in der Stadt gemeldet sein.
Einige Hundert Meter weiter treffen die Gassenarbeiter auf Alex (61). Der bärtige Mann mit dem wettergegerbten Gesicht sitzt am Helvetiaplatz auf einer Bank im Schatten. Der Winter sei auf der Strasse ganz klar besser als der Sommer. «Ich sage es mal so: Anziehen kannst du dich immer, aber ausziehen nicht.» Er trinke momentan viel Wasser. «Auch solches, das mit viel Hopfen angereichert ist», sagt er und zeigt auf die vier Bierdosen, die er fein säuberlich vor sich am Boden aufgereiht hat. Das Wasser, das ihm die Gassenarbeiter geben, nimmt er dennoch gerne. Aber Sonnencreme brauche er keine, sagt er, zieht den Ärmel seiner gelb-grünen Trainerjacke hoch und zeigt auf seine braun gebrannten Arme. Abkühlung verschafft er sich zurzeit in der Limmat. «Am liebsten beim Unteren Letten.»
Am Ende ihrer Tour treffen Rémy Guillaume und Karin Verga am Central gegenüber dem Coop auf Sara (37) und Darius (34). «Hallo, Mama Karin», begrüsst Sara die Gassenarbeiterin. Und fragt, wann die Sunestube wieder offen habe. «Am Samstag», antwortet Verga. «Darauf freue ich mich», sagt Sara. «Endlich wieder duschen und Kleider waschen.»
Die Gassenarbeiterinnen und Gassenarbeiter des Sozialwerks Pfarrer Sieber sind den ganzen Tag unterwegs. Heuer patrouillieren sie auch im Sommer erstmals nachts, wegen der vielen Geflüchteten, die am Hauptbahnhof ankommen und weiterreisen, wie Guillaume sagt. In der Nacht verteilen sie Essen und Getränke. Besonders schutzbedürftige Menschen verweisen sie ans Zentrum für Suchtmedizin, das einen Raum am Hauptbahnhof hat.
Wie die Stadt auf Anfrage mitteilt, gibt es kein Pendant zur Kältepatrouille, die im Winter auch nachts unterwegs ist. Aber auch die Mitarbeiter des städtischen Sozialdienstes SIP sind ganztags unterwegs und im Sommer mit Wasserflaschen und Sonnencreme ausgerüstet.
Konkretere Massnahmen hat die Stadt Genf ergriffen: In ihrem Hitzemassnahmenplan werden explizit auch obdachlose Menschen erwähnt. Sozialarbeiter machen täglich eine Tour durch die Stadt, um nach den Obdachlosen zu schauen und Wasserflaschen zu verteilen. Das wäre ganz im Sinne von Menschen wie Stefan.