Nicolas Gabriel (58) steht vor der Universität Zürich. Er trägt einen blauen Pullover und eine elegante quadratische Brille. Er ist gross und schlank und wirkt gepflegt. Dieses Bild entspricht nicht dem Klischee eines Obdachlosen. Vorurteile gegenüber obdachlosen Menschen sind weit verbreitet – insbesondere in der wohlhabenden Schweiz.
HIV-Neurose
Nicolas Gabriel hatte eine normale Kindheit und stammt aus einer akademischen Familie mit deutschen Wurzeln. Sein Vater, ein wichtiges Vorbild in seinem Leben, war Mathematikprofessor an der Universität Zürich, seine Mutter Lehrerin. Er war zwar immer schon ein ruhiger Typ, führte aber ein typisches Studentenleben. Er lebte in einer WG, hatte eine Freundin und schloss sein Jurastudium ab. Er wollte sich für Menschenrechte einsetzen. Doch dann kam seine Psychose.
«Ich war 23 Jahre alt und arbeitete als Assistent an der Uni Zürich im Arbeitsrecht, als die ersten Anzeichen meiner psychischen Krankheit auftraten.» Gabriel entwickelte eine Angststörung, die sich auf das Virus HIV konzentrierte. Eine konstante Angst, sich mit HIV anzustecken. Ende der 80er-Jahre, als Aids in Zürich aufkam, löste ein Zeitungsartikel diese Angst aus. Er begann, sich ständig mit diesem Thema auseinanderzusetzen. «Objektiv bestand null Ansteckungsgefahr, auch gehörte ich keiner Risikogruppe an, das war alles in meinem Kopf.»
Diese Angst beeinträchtigte sein Leben und führte zu beruflichen und persönlichen Problemen. Für Gabriel war Aids mit der Angst vor dem Sterben verbunden. Diese Angst vereinnahmte ihn jahrelang, er duschte mindestens viermal am Tag, konnte keinen Körperkontakt zulassen, was auch zum Ende seiner damaligen Beziehung führte. Es ging alles den Bach runter, er verlor viele gute Freunde. Sein Leben wurde auf den Kopf gestellt. «Mit der konstanten Angst, mich infizieren zu können, konnte ich keine Leistungen erbringen, und sie führte mich in eine Sackgasse.»
Nächstenliebe
Dann landete er auf der Strasse. Mit 36 Jahren. «Wenn man nicht betteln will, dann ist die einfachste und schnellste Lösung, Hefte für ‹Surprise› zu verkaufen. Hätte ich nicht dort angefangen, hätte ich im Abfall mein Essen finden müssen.» Nicolas Gabriel musste einen Ausweg finden. Er versuchte, seine Ängste zu überwinden, indem er sich sozial engagierte und anderen Menschen half. Raus aus dem Kopf und wieder zurück ins normale Leben. Gabriel arbeitete freiwillig in verschiedenen Einrichtungen und begleitete Menschen mit Behinderungen, ältere sowie drogen- und alkoholabhängige Menschen.
«Im Heim war es am Anfang schrecklich mit den Menschen. Sie kamen, umarmten und küssten mich. Dinge, mit denen ich sehr Mühe hatte», sagt Gabriel. Im Alterspflegeheim, wo auch seine Mutter wohnt und mit der er immer Kontakt pflegte, engagiert er sich seit 18 Jahren, jeden Abend. Schliesslich wollte er sich direkt seiner HIV-Angst stellen: Er sammelte Spritzen auf der Strasse auf. «Ich musste mir beweisen, dass man nicht mit so einer Angst leben kann in dieser Welt. So konnte ich meine Angst überwinden», erzählt Gabriel.
18 Jahre lang in der Peripherie
Während all diesen Jahren arbeitete er bei «Surprise» und am frühen Morgen als Zeitungsverteiler. In den obdachlosen Jahren lebte er am Stadtrand von Zürich. Eineinhalb Jahre wohnte er unter einer Brücke. Fast niemand wusste, dass er obdachlos war. «Ich hatte es nie so schwer wie andere Obdachlose, in der Stadt ist es viel schlimmer», sagt er. Er war organisiert, wusch dreimal pro Woche seine Kleider im Fluss. Im Pflegeheim bekam er warme Speisen.
«Als Obdachloser ist es sehr schwierig, die Kontakte aufrechtzuerhalten. Niemand weiss so recht, wie mit dieser Situation umgehen, es gibt eine grosse Hemmschwelle.» Man wolle auch gar keine Hilfe annehmen. Man habe gar keine Zeit, Beziehungen zu pflegen, man sei so mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. In diesen Jahren hatte er, ausser mit seiner Mutter und einem guten Freund mit ähnlichem Schicksal, keine sozialen Beziehungen.
Gabriel ist oft an der Universität Zürich in der Bibliothek, in der Literatur findet er Trost. Bei «Surprise» schreibt er ab und zu Kolumnen. So hat er auch seine aktuelle Freundin kennengelernt. Diese hatte ihm auf eine seiner Kolumnen geantwortet: Ein Jahr lang haben sie jeden Tag Mails ausgetauscht, und das, obwohl Gabriel keinen Computer hatte. Doch er ging jeden Tag ins «Surprise»-Büro, um ihr zu antworten. Irgendwann war der Speicher so voll, dass er ihr nicht mehr schreiben konnte. Ein Jahr und 200 Mails später trafen sie sich. «Ein Paradies auf Erden», sagt er und zeigt einen Ring, der diese Liebe für ihn symbolisiert.
Heute hat Gabriel ein WG-Zimmer in Zürich-Witikon und ist seit einem Jahr in der Ausbildung zum Stadtrundgang-Führer bei «Surprise». Bei diesen Stadtrundgängen wird er Orte und Einrichtungen zeigen, die ihn geprägt haben und ein wichtiger Teil seines Lebens auf der Strasse waren. Seine Tour durch Zürich startet voraussichtlich diesen Sommer.
Nach 18 Jahren am Rand der Gesellschaft ist Nicolas Gabriel ein offener und sozialer Mensch geworden. Wenn er sich vorstellt, dass er jahrelang keinen Menschenkontakt ertragen konnte, hält er das schier für unmöglich. Heute ist er zufrieden mit seinem Leben. Seine Vergangenheit auf der Strasse und die psychische Erkrankung werden immer ein Teil von ihm sein, aber er ist bereit, auf seine Art wieder Teil der Gesellschaft zu werden.