Blick: Herr Jorio, wollen Sie die Neutralität abschaffen?
Marco Jorio: Im Gegenteil. Ich bin ein Befürworter der Neutralität. Man muss sie einfach realistisch sehen und einsetzen. Wir können nicht mehr mit der Neutralität aus früheren Jahrzehnten kutschieren. Aber das tut der Bundesrat.
Warum?
Weil sich Bundesrat an die Haager Konvention von 1907 klammert und sich nicht auf die neuen völkerrechtlichen Grundlagen wie die Uno-Charta von 1945 stützt. Er leitet sogar das aus der Konvention ab, was nicht drin steht: die Weitergabe von Schweizer Waffen durch Drittstaaten.
Was regelt das Haager Abkommen?
Eigentlich wenig. Dass ein Neutraler keine Truppen von kriegführenden Staaten durchlassen oder bei sich auf dem Territorium dulden darf. Er muss solchen Neutralitätsverletzungen entgegentreten: Wie, ist aber offen. Er darf nicht zulassen, dass Truppen für eine Kriegspartei auf neutralem Gebiet gebildet werden. Er muss bei Einschränkung der Waffenausfuhr alle Parteien gleich behandeln. Aber heute darf man eben Opfer und Täter nicht mehr gleich behandeln!
Der gebürtige Tessiner Marco Jorio ist in Zug aufgewachsen. Er studierte in Freiburg und Poitiers (F) Geschichte und Französische Literatur. Seine Dissertation schrieb er zum Untergang des Fürstbistums Basel (1792–1815). Von 1988 bis 2014 war er Chefredaktor des Historischen Lexikons der Schweiz (HLS), des grössten von der öffentlichen Hand je finanzierten Lexikonprojekts. Seither ist er freischaffender Historiker und sitzt für die GLP im Grossen Gemeinderat von Worb BE. 2023 publizierte er das Buch «Die Schweiz und ihre Neutralität. Eine 400-jährige Geschichte», das viel Beachtung fand. Jorio ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und wohnt in Rüfenacht BE.
Der gebürtige Tessiner Marco Jorio ist in Zug aufgewachsen. Er studierte in Freiburg und Poitiers (F) Geschichte und Französische Literatur. Seine Dissertation schrieb er zum Untergang des Fürstbistums Basel (1792–1815). Von 1988 bis 2014 war er Chefredaktor des Historischen Lexikons der Schweiz (HLS), des grössten von der öffentlichen Hand je finanzierten Lexikonprojekts. Seither ist er freischaffender Historiker und sitzt für die GLP im Grossen Gemeinderat von Worb BE. 2023 publizierte er das Buch «Die Schweiz und ihre Neutralität. Eine 400-jährige Geschichte», das viel Beachtung fand. Jorio ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und wohnt in Rüfenacht BE.
Hier setzt das Manifest an. Sie wollen, dass Waffenausfuhren an die Ukraine ermöglicht werden. Soll die Schweiz heute Panzer dorthin schicken können?
Das Manifest sagt nur, dass das Kriegsmaterialgesetz anzupassen ist. Meine Meinung: Waffenausfuhren ja, aber nur zum Schutz der Zivilbevölkerung vor dem Terrorkrieg. Panzer – nein, Fliegerabwehr – ja. Wir verlangen vom Bundesrat eine sicherheits- und aussenpolitische Lagebeurteilung. Er muss bestimmen, in welchem Fall künftig was gilt. Jetzt sabotiert der Bundesrat mit dem totalen Waffenausfuhrverbot den Artikel 51 der Uno-Charta, der der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung gibt.
Im Manifest heisst es: «Die Schweiz bereitet sich in der Friedenszeit mit der Nato und der EU so vor, dass sie sich im Fall einer Aggression gemeinsam mit den demokratischen Rechtsstaaten militärisch verteidigen kann.» Damit geben wir doch die Neutralität auf!
Nein! Sie «bereitet sich vor», das heisst, es geht um Planung. Es geht nicht um einen Nato-Beitritt. Das wollen wir gerade nicht.
Was wollen Sie dann?
Wir wollen, dass die Schweiz nicht überrumpelt wird, sollten künftig fremde Kampfjets über der Schweiz aufkreuzen. Planen kann man alles. Ich meine sogar: Wir müssen das tun!
Man kann doch nicht einfach planen und wenns ernst wird, sagen: Sorry, wir machen nicht mit.
Wenn man Absprachen trifft, hat man eine gewisse Verpflichtung. Aber ein neutraler Staat muss auch Nein sagen können. Man muss ja nicht so weit gehen wie General Guisan während des Zweiten Weltkriegs. Er liess die Franzosen auf dem Gempen-Plateau bei Basel Stellungen abstecken.
Neutraliät und Friedenskonferenz
Wie soll die Zusammenarbeit aussehen?
Man kann sich absprechen: Wie arbeiten wir zusammen, wenn die Schweizer Lufthoheit verletzt wird? Wie können wir unsere Waffen- und Kommunikationssysteme aufeinander abstimmen?
Wollen Sie mit dem Manifest Blocher und seiner Initiative in die Parade fahren?
Nein, das war nicht die Absicht. Wir machen keinen Abstimmungskampf, dafür wäre es zu früh. Wir wenden uns in erster Linie an den Bundesrat und das Parlament. Der Ukraine-Krieg und das Waffenausfuhrverbot zeigen doch, wie nötig es ist, dass die Schweiz die Neutralität fit macht für die Zukunft.
Wie stehen Sie zur SVP-Neutralitäts-Initiative?
Die Neutralität selber ist ja jetzt schon in der Verfassung verankert. Die Umsetzung der Neutralität gehört da nicht hinein. Die Schweiz muss in ihrer Aussenpolitik unbedingt flexibel bleiben. Die Neutralitäts-Initiative würde mit dem Embargoverbot nur Putin nützen. Und sie beruht auf einer überholten Neutralitätsauffassung: Die Neutralität allein hat die Schweiz noch nie gerettet.
Eine Gruppe von 87 Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Diplomatie hat vorletzte Woche ein Manifest vorgestellt, das die Neutralität neu auslegen will. Sanktionen gegen Angreifer sollen erlaubt sein, auch Unterstützungsleistungen an das angegriffene Land. Ganz anders will es Christoph Blocher mit der Neutralitäts-Initiative: Sanktionen darf die Schweiz weder anordnen noch mittragen – ausser sie ist gegenüber der Uno dazu verpflichtet. Sanktionen der EU, wie nach dem Angriff auf die Ukraine, gegen Russland, dürfte die Schweiz nicht mehr übernehmen.
Eine Gruppe von 87 Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Diplomatie hat vorletzte Woche ein Manifest vorgestellt, das die Neutralität neu auslegen will. Sanktionen gegen Angreifer sollen erlaubt sein, auch Unterstützungsleistungen an das angegriffene Land. Ganz anders will es Christoph Blocher mit der Neutralitäts-Initiative: Sanktionen darf die Schweiz weder anordnen noch mittragen – ausser sie ist gegenüber der Uno dazu verpflichtet. Sanktionen der EU, wie nach dem Angriff auf die Ukraine, gegen Russland, dürfte die Schweiz nicht mehr übernehmen.
Doch das glauben viele.
Das ist nicht ganz falsch, aber es ist nur ein Teil der Wahrheit. Da steckt viel Mythos drin. Doch die Neutralität wurde schon lange vorher mythisch aufgeladen. Historiker wie der Zürcher Staatsarchivar Paul Schweizer (1852–1932) versuchten zu belegen, dass die Neutralität seit 1291 zur DNA der Schweiz gehöre. Doch unsere dauernde Neutralität begann erst im Dreissigjährigen Krieg von 1618 bis 1648.
Wie ging es weiter?
Danach nahmen die anderen Staaten die Schweiz als neutral wahr. 1813 erklärte die Tagsatzung in Zürich die Schweiz für unabhängig und neutral. 1815 anerkannten die Grossmächte in Paris die Neutralität offiziell an. Doch schon während der französischen Besetzung um 1800 behauptete man, die Neutralität habe die Schweiz während Jahrhunderten vor dem Krieg bewahrt.
Wann war diese Erzählung für das Selbstverständnis der Bevölkerung am wichtigsten?
Beispielsweise im Ersten Weltkrieg. Das Land war gespalten. In der Deutschschweiz war man anfangs deutschfreundlich eingestellt, in der Westschweiz sympathisierte man mit den Entente-Mächten. Die Neutralität war die Klammer, die das Land zusammenhielt.
Der Bundesrat wiederholte nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Neutralität habe die Schweiz gerettet. So wie es Blocher immer noch tut.
Da wir Schweizerinnen und Schweizer über Generationen traumatisiert sind von den beiden Weltkriegen, hat sich dieser Mythos so stark in den Köpfen festgesetzt. Das bringt man fast nicht mehr raus. Deshalb wird die Neutralität heute immer noch überhöht und verklärt. Dabei ist sie nur ein Instrument der Aussenpolitik.
Wie war es wirklich: Warum verschonte Hitler die Schweiz?
Es gibt mehrere geostrategische Gründe, die von den jeweiligen Kriegsphasen abhingen. Der wichtigste war Italien. Die Italiener wollten die Deutschen unter keinen Umständen auf dem Gotthard und schon gar nicht in Chiasso vor den Toren Mailands haben.
Was wollten sie dann?
Italien wollte im Alpenraum eine neutrale Pufferzone. Darum beschützte Italien lange das kleine Österreich. Der italienische Botschafter in der Schweiz nannte denn auch die Alpen «il baluardo naturale dell'Italia», den natürlichen Schutzwall Italiens. In Berlin wusste man: Wenn wir in die Schweiz einfallen, bekommen wir Probleme mit unserem angeblichen Verbündeten Italien.
Ihr Vater stammt aus dem Tessin. Wie stand er zur Neutralität?
Das war kein Thema. Mein Vater war wie viele Tessiner anti-italienisch. Wenn er auf Deutsch über die Faschisten schimpfte, sprach er immer von den «Fazischten». Mein Vater war 1934 Augenzeuge, als die Tessiner Faschisten einen Marsch auf Bellinzona organisierten. Voller Stolz erzählte er, wie die Demokraten aus dem ganzen Tessin zusammenkamen – dalle valli e dai laghi (von den Tälern und Seen) –, um die «Fazischten» zu vertreiben. Er war Anhänger des Tessiner Elvetismo. Dessen Credo war: Wir wollen frei sein, aber Schweizer. Frei von Italien.
Die Neutralität nützt der Schweiz bis heute. Nächste Woche beginnt die Friedenskonferenz …
Sicher ist das auf dem Bürgenstock keine Friedenskonferenz. Es ist eine Ukraine-Konferenz. Russland sitzt nicht mit am Tisch. Die Russen wollen gar nicht Frieden machen. Doch das ist die Voraussetzung: Beide Kriegsparteien müssen Frieden wollen.
Hat sich die Schweiz übernommen?
Das würde ich nicht sagen. Ja, es ist eine grosse Kiste. Aber was kann da schon Schlimmes passieren?
Man gibt unheimlich viel Geld für nichts aus.
Das ist aber sehr kleinkariert gedacht. Wir haben für Dümmeres schon mehr Geld ausgegeben. Im schlimmsten Fall scheitert die Konferenz, wie viele vor ihr. Aber es ist doch gut, wenn die Schweiz überhaupt versucht, einen Frieden anzustossen.
Ist die Schweiz so selbstlos? Es ist auch der Versuch der Schweiz, nicht mehr so abseits zu stehen, sich international wieder beliebter zu machen.
Die Schweiz steht gar nicht schlecht da. 80 Staaten sagten zu. Das zeigt doch, dass die Schweiz nach wie vor als neutrale Friedensvermittlerin akzeptiert wird. Und zwar als gefährliche! Sonst würden die Russen nicht so aufgeregt und primitiv reagieren. Das Ansehen der Schweiz und ihrer Neutralität sind – entgegen dem, was Blocher und andere behaupten – nach wie vor intakt.
Dann hat die Schweiz also alles richtig gemacht?
Nein, nicht ganz. Paul Seger, der ehemalige Schweizer Botschafter in Deutschland, sagte einmal treffend: Aussenpolitik kann man nicht in aller Öffentlichkeit mit dem Megafon machen. Zudem hätte der Bundesrat die Russen unbedingt offiziell einladen sollen. Jetzt können sie das arme Opfer spielen, das nicht einmal eingeladen wurde.
Sie können zu sehr vielen Themen Auskunft geben. Der ehemalige Zuger Stadtarchivar sagte einmal über Sie, Sie seien ein wandelndes Lexikon. Übertrieben oder wahr?
(Lacht.) Wandelnd bin ich, aber ich bin kein Lexikon, ich habe lediglich eines gemacht.
Hat Ihre jahrzehntelange Arbeit als Chefredaktor des Historischen Lexikons der Schweiz (HLS) keine Spuren hinterlassen?
Natürlich. Ich habe sicher die grossen Linien der Schweizer Geschichte im Kopf. Aber oft brauche ich einen Aufhänger, um mich wieder an Details zu erinnern. Wenn ich irgendwo «Friedensmuseum in Luzern» lese, weiss ich, das habe ich schon mal gehört, dann ist schnell vieles wieder da.
Seit kurzem gibt es über Sie einen HLS-Artikel. Warum nicht schon früher?
Also, ich hätte den Jorio nicht aufgenommen! Lebende gehören eigentlich nicht in ein historisches Lexikon. Man muss ja das Lebenswerk abschätzen können.
Heute gehen viele eher auf Wikipedia als auf die HLS-Website. Schmerzt das?
Nein, auch ich gehe auf Wikipedia. Das ist praktisch, um Fakten zu suchen. Wikipedia bietet aber oft keine Informationen zu allgemeinen historischen Phänomenen mit Bezug zur Schweiz. Die Geschichte der Schweizer Glasindustrie beispielsweise findet man nicht auf Wikipedia. Dafür braucht es eben das HLS.
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