«Das Gespräch mit der Gemeinde war herablassend»
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Keine Einigung erzielt:«Das Gespräch mit der Gemeinde war herablassend»

Trotz Arztzeugnis kürzte Cazis GR Mischa Huonder (36) die Sozialhilfe
«Das ist reine Schikane»

Mischa Huonder ist zu 100 Prozent krankgeschrieben. Trotzdem hätte er auf der Gemeinde arbeiten müssen. Weil er das nicht tat, wurde ihm prompt die Sozialhilfe gekürzt – unbegründet. Erst als Huonder mit dem Blick drohte, kam Bewegung in die Sache.
Publiziert: 21.11.2022 um 12:53 Uhr
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Aktualisiert: 21.11.2022 um 14:21 Uhr
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Sozialhilfeempfänger Mischa Huonder (36) mit Hündin Mia hat Scherereien mit der Gemeinde Cazis: Sie forderte ihn trotz bescheinigter, 100-prozentiger Arbeitsunfähigkeit zu gemeinnütziger Arbeit auf.
Foto: Céline Trachsel
Céline Trachsel
Céline TrachselReporterin

Er lebt in ständiger Angst. «Die muss nicht einmal rational sein. Es ist einfach ein Gefühl, das immer da ist», sagt Mischa Huonder (36). Der Bündner hat eine Angststörung, die ein Psychiater diagnostiziert hat. Begonnen hat es, als Huonder etwa 20 Jahre alt war – mit Panikattacken. Manifestiert hat sich die Angststörung nach einem Stalking-Vorfall vor ein paar Jahren.

«Seit vier Jahren bin ich arbeitsunfähig», erzählt Huonder. «Ich schaffe meinen Alltag kaum noch. Selbst mit dem Hund spazieren zu gehen, ist eine Herausforderung. Auch einfach Dinge wie den Briefkasten leeren lösen Angstzustände aus.»

Geschlossene Räume und andere Personen sind ein Problem

Und trotzdem will die Gemeinde Cazis, wo er seit diesem Jahr wohnt und Sozialhilfe bezieht, dass Huonder arbeitet – gemeinnützig. «Ich wurde mehrmals dazu aufgefordert, aber reichte dann meine Arztzeugnisse ein», erzählt Huonder Blick. Doch im Oktober folgt eine neue Einladung: Er soll auf der Gemeindeverwaltung Wahlmaterial abpacken.

«Das wäre unmöglich gewesen. Geschlossene Räume gehen gar nicht. Einen Lift kann ich nicht benutzen. Unter fremden Leuten fühle ich mich äusserst unwohl. In einem Team etwas zu erledigen – das ginge nicht.» Also bleibt er dem Arbeitseinsatz fern – schliesslich ist er ja zu 100 Prozent krankgeschrieben. Die IV-Abklärungen laufen.

«Ich fühlte mich wie Dreck behandelt»

Seine Absenz bestraft die Gemeinde umgehend: Statt der üblichen 880 Franken Sozialhilfe erhält Huonder für den Monat November nur 730 Franken. «Ich suchte das Gespräch auf der Gemeinde», sagt er. «Doch ich wurde herablassend behandelt. Eine Verfügung für die Kürzung habe ich nie erhalten.»

Die Sache habe ihm schlaflose Nächte bereitet. «Erstens wegen des Geldes und weil ich mir Sorgen machte, wie ich die Tierarztrechnungen für meine Hündin Mia bezahlen soll. Aber auch, weil ich mich wie Dreck behandelt fühlte.» Dabei würde er gerne arbeiten können. «Ich wäre gerne fähig dazu, denn Autos waren mein Leben», sagt der gelernte Automechaniker. «Als ich jung war, fühlte ich mich so unverwundbar – aber eine psychische Erkrankung kann jeden treffen.»

Plötzlich lenkte die Gemeinde ein

Der Gemeinde reicht Huonder schliesslich ein Arztzeugnis ein, das explizit gemeinnützige Arbeiten ausschliesst. Und er informiert die Gemeinde über seinen Gang zu Blick. Plötzlich kommt Bewegung in die Sache: Die Gemeinde überweist schliesslich doch noch die verbleibenden 150 Franken. «Dann hat die Bemerkung, dass ich zu Blick gehe, doch gewirkt. Aber für mich ist das ein Schuldeingeständnis. Denn die Zeugnisse hatte die Gemeinde schon lange», sagt Huonder.

Er will mit der Geschichte aufzeigen, dass Sozialhilfe zu beziehen in der Schweiz keine einfache Sache ist. «Man wird mit Problemen konfrontiert, die das Krankheitsbild sogar noch verstärken. Alle denken immer, in der Schweiz werde man ja gut aufgefangen – aber die Behörden können einem manchmal extra Steine in den Weg legen. Als Sozialhilfeempfänger erlebt man manchmal reine Schikane.» Darauf werde gar nie aufmerksam gemacht – deshalb wagte Huonder den Gang an die Medien.

Holschuld bei der Gemeinde, keine Bringschuld beim Sozialhilfeempfänger

Ueli Kieser (67), Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität St. Gallen, schätzt das Vorgehen der Gemeinde Cazis als Fehlverhalten ein. «Theoretisch hätte die Gemeinde recht, wenn sie vom Sozialhilfeempfänger ein Zeugnis verlangt, das aufzeigt, welche konkreten Arbeiten unzumutbar sind. Zum Beispiel Arbeiten in geschlossenen Räumen oder mit anderen Personen zusammen. Denn erst dann kann eine Gemeinde wissen, in welchen Tätigkeiten jemand noch arbeitsfähig ist. Aber es ist eine Holschuld der Gemeinde, die Zumutbarkeit vorgängig abzuklären, bevor jemand zu einem Arbeitseinsatz verpflichtet wird.»

Kieser gibt zu bedenken, dass es sich bei Sozialhilfeempfängern um besonders vulnerable Personen handelt. «Da muss schon mit einer gewissen Sensibilität vorgegangen werden», sagt Kieser. Eine Leistungskürzung ohne begründete Verfügung sei überdies klar gegen das Gesetz.

Probleme treten eher in kleineren Gemeinden auf

Kieser erklärt: «Alle, die Sozialhilfe empfangen, müssen an zumutbaren Schadenminderungsmassnahmen teilnehmen. Aber die Gemeinde muss beweisen, dass jemand trotz seiner Situation arbeiten kann. Das ist die Aufgabe der Gemeinde.» Liege ein ärztliches Zeugnis vor, das bestimmte Tätigkeiten ausschliesse, müsse dies dann auch akzeptiert werden. «In diesem Fall hat die Gemeinde Cazis wohl gemerkt, dass ihr Vorgehen falsch war, und hat eingelenkt», meint der Sozialversicherungsrechtsprofessor.

Die meisten Sozialhilfefälle würden seiner Erfahrung nach jedoch korrekt laufen – vor allem in grösseren Gemeinden. Es käme eher in den kleineren Gemeinden zu Problemen. «Jeder Fall, in dem die Empfänger drangsaliert und unter Druck gesetzt werden, ist einer zu viel. Denn das sind verletzliche Menschen. Schade, wenn es die Gemeinde einfach mal probiert.»

Die Gemeinde Cazis wollte weder zu den konkreten Vorwürfen noch zu allgemeinen Fragen zu ihrem Umgang mit Sozialhilfefällen Stellung nehmen.

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