«Wir haben die ja auch bauen lassen»
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Einheimisches sind hässig:«Wir haben die ja auch bauen lassen»

Einheimische in Ftan GR stinksauer auf Auswärtige – wegen Einsprachenflut
«Wenn es euch nicht passt, zieht wieder ins Unterland»

In der heilen Engadiner Welt von Ftan GR herrscht Unmut. Ein Bauprojekt, das die grassierende Wohnungsnot für Einheimische und Arbeitnehmer hätte entlasten sollen, wird von gut betuchten Zweitwohnungsbesitzern mit Einsprachen torpediert. Blick war vor Ort.
Publiziert: 00:02 Uhr
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In Ftan, oberhalb von Scuol GR, sind die Gemüter erhitzt.
Foto: Sandro Zulian

Auf einen Blick

  • Zweitwohnungsbesitzer blockieren Wohnungsbauprojekt für Einheimische in Ftan GR
  • Architekt kritisiert Einsprachen in offenem Brief als unbegründet
  • Über zwölf Nachbarn, hauptsächlich Zweitwohnungsbesitzer, erheben Einsprache gegen das Projekt
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Sandro ZulianReporter News

In Ftan GR ist ein regelrechter Kleinkrieg ausgebrochen: Einheimische gegen Besitzer von Zweitwohnungen! «Schämt euch» und «Geht wieder ins Unterland» gehören fast noch zu den netteren Aussagen, die von der lokalen Bevölkerung fallen. Wie konnte es so eskalieren?

Es begann mit dem geplanten Bau von zwei Genossenschaftshäusern. Zur Miete und für einen akzeptablen Preis sollte so dem Wohnungsmangel im Engadin wenigstens ein bisschen entgegengewirkt werden.

«Schämt euch!!!»

Sollte. Denn nachdem das Baugesuch eingegangen war, passierte es: Über zwölf Nachbarn erheben Einsprache. Es sind grösstenteils Zweitwohnungsbesitzer, Unterländer in schönen, grossen und nur selten belegten Anwesen. Wütend schrieb der Architekt des Projekts, Chasper Cadonau (48) einen offenen Brief. Und outete die Einsprecher dabei gleich noch öffentlich.

«Sämtliche Baugesetze sind eingehalten, wir haben sogar dreimal mehr Abstand zu euch als vorgeschrieben», heisst es da. «Und ihr wollt nicht, dass gebaut wird? Schämt euch!!!», schreibt der Architekt in seinem Brandbrief.

Fazit: «Wenn es euch nicht passt, habt ihr immer noch die Möglichkeit, wieder ins Unterland zu ziehen.»

«Ftan ist bald ein Museum»

Blick besucht Ftan – hier wird momentan nur über den verhinderten Bau geredet. Unweit der Bauvisiere liegt die Backstube von Curdin Marugg (36). Das Vorgehen der Einsprecher findet er «einfach nur traurig». Er zeichnet ein düsteres Zukunftsbild der Region: «In ein paar Jahren ist das hier ein grosses Museum – die Zweitwohnungsbesitzer haben Ruhe und alle Einheimischen sind weg.»

Hier liegt Ftan GR.
Foto: Blick Grafik

Ähnlich klingt es beim Ftaner Fahrlehrer Beat Vonlanthen (42) ein paar Meter weiter: Den offenen Brief von Architekt Cadonau unterstützt er. Es brauche die Zweitwohnungsbesitzer, aber: «Es wäre schön, wenn sie Rücksicht auf die Einheimischen nehmen würden, die das ganze Jahr hier leben.»

Dort, wo die Bauvisiere für das Projekt stehen, trifft Blick das Rentnerpaar Pol Clo (83) und Claudia Nicolay (75). Sie finden das Vorgehen der Zweitwohnungsbesitzer nicht in Ordnung: «Ich glaube, diese Leute leben derart für sich, dass sie nicht merken, dass sie unser Problem nicht verstehen.» Und die Ur-Ftanerin Lucrezia Pedotti (73) doppelt nach: «Freunde haben sie sich damit keine gemacht. Es ist fies, gemein und traurig!»

Vor ihrem Haus trifft Blick Ursula Kindschi (68), Präsidentin von Pro Ftan, eine gemeinnützige Organisation, die sich dem Gemeindewohl verschrieben hat. Auch sie sagt: «Für das, dass sie solche Häuser haben, sind sie fast nie da. Hier oben sind ganz viele Leute ganz schön wütend.»

Blick-Recherchen zeigen: Es ist nicht das erste Mal, dass genau die gleichen Zweitwohnungsbesitzer an genau diesem Hang ein Bauprojekt mit Einsprachen eindecken. Silvio P.* will hier, direkt hinter der Parzelle, die jetzt bebaut werden soll, ein Projekt realisieren. Seit März 2023 ist es blockiert.

Mit einer Ausnahme sind es dieselben Einsprecher wie bei Cadonaus Projekt. Und die Begründungen? «Absurd», sagt P.: Das Bauprojekt befände sich «inmitten von unbebautem Gebiet», es würde «die Aussicht massiv beeinträchtigen» und sei «gestalterisch nicht vertretbar». Ausserdem würden auf dieser Wiese Kinder schlitteln und Ski fahren. Nüchtern bilanziert P.: «Hätten die Einsprachen nicht stattgefunden, würden heute weitere Wohnungen für Einheimische in Ftan zur Verfügung stehen.»

Shitstorm gegen Zweitwohnungsbesitzer

Die Einsprecher haben die Hasswelle auch mitbekommen. «Wir werden überschüttet und möchten gar nichts sagen!», sagt eine Einsprecherin am Telefon. Blick versuchte mehrmals, den Einsprechern das Wort zu geben. Vergeblich. «No comment!», sagt eine weitere Einsprechende und verweist auf ihren Churer Anwalt.

Dieser vertritt neun der 13 Einsprechenden – und selbst der Anwalt will seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen. «Die Einsprecher wussten nicht, dass das Projekt von einer Wohnbaugenossenschaft getragen wird, die den Wohnungsbau durch Einheimische ermöglichen soll», sagt er. Die Einsprachen passierten, «um überhaupt erst die relevanten Informationen erhalten zu können».

Aus Sicht der Einsprecher sei das Bauprojekt jedoch rechtswidrig. Im gesamten Gemeindegebiet von Scuol herrsche eine sogenannte Planungszone, ein spezielles Instrument des Raumplanungsrechts. Es sei nicht zulässig, die Parzelle zu bebauen, bevor entschieden sei, ob sie ausgezont werden müsse. Die Einsprecher hätten Verständnis für die Wohnungsknappheit im Engadin, aber: «Dieses Problem muss aber auf politischer Ebene angegangen werden.» 

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Dafür ist Aita Zanetti (54) zuständig. Die Präsidentin der Gemeinde Scuol, zu der Ftan gehört, sagt gegenüber Blick, dass das Verfahren aktuell laufe. «Der Gemeindevorstand hat – aufgrund der Wohnungsnot – selbstverständlich grösstes Interesse an der Realisierung neuer Erstwohnungen und unterstützt dies auch, soweit ihm das möglich ist.» Dass aber beide Seiten angehört würden, sei eine Selbstverständlichkeit: «Sowohl Baugesuchstellende als auch Einsprechende werden fair und rechtsgleich behandelt.»

Der Entscheid wird in Ftan mit Spannung erwartet. Doch die Hoffnung ist nicht allzu gross, sagt jemand auf der Strasse: «Die ziehen das dann einfach immer weiter, bis Jahre vergangen sind!»

*Namen geändert 

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