Auf einen Blick
- Chur möchte kontrollierte Kokainabgabe zur Eindämmung der Crack-Krise
- Stadtrat sieht grosses Potenzial in staatlicher Kokainabgabe
- Genf ist gegen Abgabe, Zürich will abwarten
Dank des Föhns ist es angenehm warm an diesem Nachmittag im Churer Stadtgarten. An den Tischen sitzen rund zwei Dutzend Frauen und Männer, Einzelne stehen vornübergebeugt auf den Kieswegen und rauchen Crack. Die Substanz aus Kokain und Natron wirkt innert Sekunden, die Süchtigen konsumieren sie mehrmals täglich. Ein Crack-Klümpchen ist für 20 Franken erhältlich.
Gestalten mit Kapuzenpullis schlendern herum, es herrscht ein Kommen und Gehen im Park. Abhängige und Dealer begegnen sich scheinbar zufällig; eine gespenstische Szenerie am helllichten Tag.
Chur GR, die Stadt mit 41'000 Einwohnern, gilt neben Genf und Zürich als Drogen-Hotspot. Im zentral gelegenen Park halten sich laut dem zuständigen Stadtrat Patrik Degiacomi (52, SP) rund um die Uhr 20 bis 40 Personen auf, «die zur Szene gezählt werden können». Der Kreis wachse kontinuierlich leicht, wegen einer Sogwirkung der offenen Drogenszene, sagt Degiacomi. Beschaffungskriminalität macht das Problem auch ausserhalb des Parks sichtbar, häufige Autoeinbrüche und Velo-Diebstähle verärgern die Bevölkerung.
«Grosses Potenzial»
Die anhaltende Crack-Misere lässt Degiacomi nach neuen Auswegen suchen. Auch weil die Ausbreitung national fortschreitet und Strassenarbeit sowie intensivierte Betreuung das Problem nicht lösen. Deshalb fordert Degiacomi gegenüber Blick, Schwerstsüchtigen den Stoff unter Aufsicht abzugeben. So wie sich dies seit bald 30 Jahren mit Heroin bewähre. Degiacomi: «In der Einführung einer kontrollierten Abgabe von kokainbasierten Substanzen an schwerstsüchtige Personen sieht der Churer Stadtrat grosses Potenzial.» Es stelle sich sogar die Frage, weshalb der gesetzliche Spielraum nicht ganz unabhängig von einer Substanz definiert werden solle.
Degiacomi betont, dass solche Versuche streng reglementiert und wissenschaftlich begleitet werden müssten. Mit solchen Programmen könnten Drogenhandel sowie Beschaffungskriminalität eingedämmt werden. «Die Stadt Chur würde sich sehr gerne möglichst schnell an einem derartigen Versuch beteiligen.»
Nirgends praktiziert
Was die Stadt Chur anstrebt, haben Fachleute bereits angestossen. So sprach sich die Eidgenössische Suchtkommission wegen der prekären Crack-Situation bereits im Sommer für eine kontrollierte staatliche Kokainabgabe aus. Vizepräsident Christian Schneider sagte in der «NZZ am Sonntag», «je rascher, desto besser», denn man steure auf eine Krise zu.
Simona De Berardinis, die Geschäftsstellenleiterin der Eidgenössischen Suchtkommission, sagt auf Anfrage, die Entwicklung des Crack-Konsums im öffentlichen Raum sei besorgniserregend. Es brauche zur Schadensminderung mehr Notunterkünfte, Konsumräume und medizinische Betreuung. Zu einer staatlich kontrollierten Abgabe von Kokain sagt sie: «In Form einer Therapie könnte dies helfen, den Beschaffungsstress zu lindern und die Situation im öffentlichen Raum zu beruhigen.»
Zürich in abwartender Position
Während die Stadt Chur vorprescht, geben sich die Verantwortlichen in Zürich zurückhaltend. In einem ersten Schritt wolle man die Aspekte der Schadensminderung, der Therapie und Repression in engem Austausch mit anderen Städten «näher analysieren», sagt Heike Isselhorst, Sprecherin des Sozialdepartements. In Zürich nutzen laut Isselhorst über 1000 Personen die drei Kontakt- und Anlaufstellen, in denen Abhängige ihre Substanzen legal konsumieren können.
Genf hat dagegen bereits Position bezogen. Der Kanton erteilt der Forderung nach einer kontrollierten Kokain-Abgabe eine Absage: Weil die Droge physisch und psychisch enorm schädlich sei, könne man solchen Programmen aus «medizinischer Verantwortung» nicht zustimmen, sagt Cédric Alber, Sprecher des Gesundheitsdepartements.
Neue Modelle erforderlich
Um Wege zu finden, den Schwarzmarkt zum Erliegen zu bringen, müsse man neue Modelle entwickeln, betont Frank Zobel von der Stiftung Sucht Schweiz. Die Abgabe von Kokain könne ein Lösungsansatz sein, sofern daneben begleitende soziale und medizinische Massnahmen getroffen würden.
Während in den USA das synthetische Opioid Fentanyl für Elend und Zehntausende von Toten sorgt, ist diese Droge in der Schweiz erst vereinzelt sichergestellt worden. Einen inländischen Markt haben Fachleute bisher nicht beobachtet.