Geburtenboom durch Corona
Ein Land im Babyglück

Die Schweizerinnen sorgten für so viel Nachwuchs wie seit 50 Jahren nicht mehr. Möglich gemacht hat dies der vergleichsweise sanfte Lockdown.
Publiziert: 10.04.2022 um 00:41 Uhr
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Aktualisiert: 10.04.2022 um 21:49 Uhr
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Ihr Severin kam 2021 zur Welt. Familie Müller mit Lean (5), Maurin (2,5), Marisa (37) und Stefan (36).
Foto: Siggi Bucher
Tobias Marti

Krieg, Pandemie und Klimakrise. Wer die Nachrichten verfolgt, kann sich eines sehr alten Gedankens kaum erwehren: Die Welt ist mal wieder im Untergang begriffen.

Sind dies ideale Zeiten, um eine Familie zu gründen, um Kinder zu bekommen?

Historiker warten mit Negativbeispielen auf: Die Ölkrise der 70er führte zu einem Geburtenrückgang, ebenso die Eurokrise in Griechenland nach 2008. Im Gefolge der Pandemie meldet nun auch Spanien weniger Geburten. Die Italiener, gemäss Statistikern schon länger vom Aussterben bedroht, tun es den Iberern gleich.

Und nun dies! Corona bescherte der Schweiz einen wahren Babyboom. Letztes Jahr erblickten hierzulande so viele Kinder das Licht der Welt wie seit 50 Jahren nicht mehr: 89 400 Neugeborene, 4,1Prozent mehr als im Jahr zuvor, so die neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS). Der Geburtenrückgang der vergangenen Jahre scheint damit fürs Erste gestoppt.

Indizien für einen Boom gab es schon länger, etwa die vielen Schwangerschaftstests, die ab Sommer 2020 über die Apothekentheke gingen, was auch SonntagsBlick zu jener Zeit nicht verborgen blieb.

«In der Tat zeigen die Zahlen, dass die Kinder während der Lockdowns gezeugt wurden», sagt Fabienne Rausa vom BFS.

Nähe dank Lockdown

Der Lockdown habe es den Menschen ermöglicht, einander zu Hause näherzukommen, fernab vom Arbeitsstress – das könne sich positiv auf die Geburtenrate ausgewirkt haben, so die Demografin. Dazu komme, dass die Leute weniger mobil waren.

Überraschend ist, wer die Kinder bekam: Frauen mit Schweizer Pass. So gibt es einen deutlichen Anstieg bei einheimischen Neugeborenen (plus 5,1 Prozent) im Vergleich zu den Geburten von ausländischen Babys (plus 1,6 Prozent). Demografin Rausa nimmt an, dass Schweizerinnen im gebärfähigen Alter eher im Lande geblieben seien und ihr Kind hier bekommen haben.

Einen Einfluss auf die Familienplanung hatten offenbar auch die Corona-Massnahmen. Während es hierzulande nie notwendig wurde, ein Dokument auszufüllen, um zu erklären, warum man aus seiner Wohnung will, führten in Spanien und Italien «die sehr strengen Ausgangsbeschränkungen während des ersten Lockdowns zu einem Rückgang der Geburtenzahlen», so die Forscherin.

Der Soziologe François Höpflinger dazu: «Internationale Studien besagen, dass in Ländern mit viel Grünflächen, Wäldern und Parks die Geburtenrate während der Pandemie weniger sank als in Ländern mit wenig Grün.»

Eindeutig grün ist es auf dem Bauernhof von Familie Müller in Mönchaltorf im Zürcher Oberland. Der kleine Severin gehört zu den Babyboomern 2021 – er ist gerade gut drauf, isst schon drei Mahlzeiten täglich, will in der Nacht aber noch nicht durchschlafen.

Eine Welt ohne Kinder?

Warum also – bei solch teilweise divergierenden Thesen – die vielen neuen Kinder? Marisa Müller (37): «Die Welt ist ja immer am Untergehen. Aber eine Welt ohne Kinder, das wäre ja wirklich tragisch.»

Müllers sehen sich nicht als typische Vertreter des Corona-Babybooms, Severin ist nach Lean (5) und Maurin (2 ½) ihr dritter Junge. Auf dem Familienhof – Milchkühe und Ackerbau, in vierter Generation – lebe man in einem anderen Rhythmus. «Das Leben kommt, das Leben geht. Das sehen und lernen die Buben an und mit den Kälbern», sagt Stefan Müller.

Auch Familie Zbinden aus Auenstein AG bekam 2021 Nachwuchs: die kleine Elena Lucy. Nach den beiden Buben Diego Simon und Alex Yuri war für Mutter Jenny Zbinden (28) klar: «Solange der Platz reicht, die Nerven halten und es finanziell geht, möchten wir noch ein Kind bekommen – Pandemie hin oder her.» Und siehe da, es wurde ein Mädchen!

Eigentlich sollte man vermuten, dass Schwangere mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 zu 50 ein Mädchen oder einen Jungen bekommen.

Mehr Knaben

In Wirklichkeit werden hierzulande aber mehr Jungen geboren. Im Durchschnitt kommen 105 Jungen auf 100 Mädchen, «ohne dass es dafür eine Erklärung gibt», so Demografin Rausa. In Hungerphasen dagegen brächten Frauen häufiger Mädchen zur Welt.

Im Volksmund heisst es seit Erfindung der Elektrizität, man könne Stromausfälle in der Babystatistik erkennen. Und da es im Lockdown keine Ablenkungen wie Konzerte, Freunde, Restaurants gab, drängt sich die Frage auf: Kriegen wir unsere Kinder etwa aus Langeweile?

Soziologe Höpflinger hat da so seine Zweifel: «Spontane Effekte, wie die Sache mit dem Stromausfall, sind eigentlich vorbei, weil die Menschen heutzutage ganz anders an ihre Familienplanung herangehen.» Beim aktuellen Geburtenanstieg sieht der Professor primär einen «Tempo-Effekt». Soll heissen: Zuerst zögerten die Leute, holten dann aber das Versäumte nach.

Sterben wir bald aus?

Trotz all der Babys: Die Demografie ist kein Freund der Schweizer. Soziologe Höpflinger sagt es so: «Seit 1972 sind die Werte zu tief für die Bestandserhaltung.» Mit anderen Worten: Nicht nur die Italiener, auch die Schweizer sterben allmählich aus. Im Jahr 2021 lag die Kinderzahl pro Frau bei 1,51, im Durchschnitt 1,46 waren es 2020. Zur Bestandserhaltung bräuchte es aber 2,3 Geburten pro Frau.

Entweder müssen dafür künftig weitere Babyboom-Ereignisse sorgen – was sich in Kombination mit einer Pandemie niemand ernsthaft wünschen kann –, oder aber die Einwanderung wird es richten, wie bisher.

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