Forscherin zum Terror in Lugano TI
«Radikalisierte Frauen sind genauso gefährlich»

Géraldine Casutt forscht zu Frauen im Dschihad. Im Interview mit dem SonntagsBlick spricht sie über das Attentat von Lugano und über die Tendenz, die Täterin zum Opfer zu machen.
Publiziert: 28.11.2020 um 16:44 Uhr
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Géraldine Casutt forscht an der Uni Freiburg zu Frauen im Dschihad. Sie warnt: «Radikalisierte Frauen können genauso gefährlich sein wie Männer.»
Foto: Julien James Auzan
Fabian Eberhard

Am Dienstag ging eine Schweizer Konvertitin (28) im Manor in ­Lugano TI mit einem Messer auf Kundinnen los. Eine Frau wurde dabei schwer am Hals verletzt. Die verhaftete Täterin ist psychisch krank – und glühende Anhängerin des ­Islamischen Staats (IS).

Ein Fall für Géraldine ­Casutt (33). Die Soziologin schreibt am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft der Universität Freiburg eine Doktorarbeit über Frauen im Dschihad.

SonntagsBlick: Frau Casutt, die Messerattacke in Lugano wurde von einer Frau begangen. Ist der islamistische Terrorismus nicht in erster Linie eine Angelegenheit von Männern?
Géraldine Casutt: Anschläge von Frauen sind in Europa tatsächlich die Ausnahme. Radikalisierte Frauen sind aber genauso gefährlich. Sie operieren nur meist im ­Hintergrund, als Ehefrauen und Mütter.

Laut dem Bundesamt für Polizei (Fedpol) hatte sich die Attentäterin über das Internet in einen IS-Kämpfer verliebt. Wurde sie also manipuliert?
Kaum. Wir müssen auf­hören, Dschihadistinnen ständig als Opfer zu sehen, die quasi blind vor Liebe ­einem Mann folgen. Das entspricht nicht der Realität.

Was ist die Realität?
Die Frauen wissen ganz genau, was sie tun. Sie unterstützen Gruppierungen wie den Islamischen Staat, weil sie überzeugt davon sind und weil sie aktiv zur Ideo­logie dahinter beitragen ­wollen. Nicht weil sie von einem Mann dazu gedrängt werden.

Die Täterin von Lugano versuchte 2017 nach ­Syrien zu reisen, wohl um den Dschihadisten, in den sie sich verliebt hatte, zu heiraten.
Das ist typisch. Viele west­liche IS-Frauen taten das. Der Grund dafür ist, dass eine Frau im Dschihadismus nur eine aktive Rolle spielen kann, wenn sie einen Mann an ihrer Seite hat.

Also steht hinter Islamistinnen am Ende doch ein Mann.
Überhaupt nicht! Die Ra­dikalisierung passiert nicht aus Liebe oder aufgrund ­romantischer Gefühle. Das ist eine völlig falsche Annahme, die leider auch bei den Behörden weitverbreitet zu sein scheint. Die Ehe ist in diesen Kreisen oft eine sehr pragmatische Angelegenheit. Die Frauen suchen sich gezielt einen Dschihadisten für eine Heirat, um ihre ra­dikale Ideologie aktiv in die Gesellschaft zu tragen. Da­rum finde ich es problematisch, wenn das Fedpol sagt, die Attentäterin wollte nach Syrien, weil sie sich verliebt hätte. Über einen männlichen Syrien-Reisenden würde man so etwas nie sagen.

Das Fedpol sagt auch: Die Frau sei psychisch krank. Zurück in der Schweiz wurde sie in eine Klinik eingewiesen. Kann man in so einem Fall überhaupt von Terrorismus sprechen? Oder ist es vielmehr die kriminelle Tat einer verwirrten Einzelperson?
Die Täterin mag psychisch krank sein. Die islamistische Ideologie dürfte beim Angriff trotzdem eine zentrale Rolle gespielt haben. Die ­Attacke auf ihre Opfer war ein politischer Akt im Namen des Islamischen Staats.

Dieser hat sich bisher nicht dazu bekannt.
Das wäre auch eine Neuheit. Die IS-Terrormiliz hat noch nie eine Gewalttat einer Frau in Europa für sich reklamiert.

Hätte es denn Gelegenheiten dazu gegeben?
Vereinzelt, ja. 2016 etwa versuchte ein Frauenkommando in Paris eine Autobombe zu zünden – glücklicherweise vergeblich. Im gleichen Jahr griff die 16-jährige Schülerin ­Safia S. in Hannover einen Polizisten mit einem Messer an und verletzte ihn lebensgefährlich. Die Täterinnen beriefen sich alle auf den IS.

Und stand die Terrormiliz schlussendlich auch hinter diesen Taten?
Das ist bis heute nicht vollständig geklärt. Auch im Fall von Lugano ist das eine zentrale Frage: Hat die junge Frau allein ge­handelt oder war sie eingebunden in ein Netzwerk? Die Behörden müssen die Hintergründe jetzt sauber und wirklich unvoreingenommen aufarbeiten.

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