Andrea Richard schleppt Ordner und Mäppchen ins Wohnzimmer ihrer Zürcher Wohnung. «Das habe ich mir ganz anders vorgestellt», erzählt die 58-Jährige. Sie breitet auf ihrem Tisch ihre Arbeitsbemühungen und Zertifikate aus. Seit zwei Jahren sucht die gebürtige Tirolerin einen Job in der Pflege. Über 300 Bewerbungen hat sie laut eigenen Angaben schon geschrieben. «Ich bin sogar persönlich vorbeigegangen und habe meine Bewerbungsunterlagen vorbeigebracht», sagt Richard und zeigt ihr Bewerbungsmäppchen.
Ihre Erfahrungen in der Pflege sind aber begrenzt. Noch vor drei Jahren führt sie zusammen mit ihrem Freund ein Restaurant beim Zürcher Milchbuck. Dann geht ihr Freund in Rente, gleichzeitig erhöht der Vermieter den Mietzins. Für Andrea Richard der Zeitpunkt für einen Neuanfang. «Jahrelang habe ich meine Mutter und den kranken Mann einer Freundin gepflegt. In der Pflege sah ich die perfekte Job-Möglichkeit.»
Viele offene Jobs
Richard macht einen Kurs beim Schweizerischen Roten Kreuz (SRK). Der Lehrgang Pflegehelfer/-in soll ihr den Einstieg in die Pflege ermöglichen. Ihr Arbeitszeugnis nach dem obligaten Praktikum fällt äusserst positiv aus. Richard ist sich ihrer Sache sicher. Und Jobs gibt es offensichtlich genug. Ein Blick auf ein beliebtes Schweizer Job-Portal zeigt: Dutzende Stellen sind unter dem Vermerk «Pflegeassistentin» ausgeschrieben. Trotzdem sucht Richard bis heute vergebens.
«Ich sei zu unerfahren, zu alt oder zu teuer, weil ich in Zürich wohne. Das habe ich am häufigsten gehört – neben der Standardabsage, dass man jemand Geeigneteren für das Profil gefunden habe», erzählt Richard konsterniert.
Über 3000 Franken für Pflegekurs gezahlt
Richard ist enttäuscht. «Ich habe gedacht, es brauche in der Schweiz Pflegepersonal.» Enttäuscht ist Richard aber auch vom SRK. «Für den Kurs habe ich mit Weiterbildungen über 3000 Franken gezahlt. Geholfen wurde mir bei der Stellensuche nie. Ich fühle mich zunehmend veräppelt.»
60 Prozent finden einen Job
Beim Roten Kreuz sieht man Fälle wie jenen von Andrea Richard als Ausnahme. «Pro Jahr machen 4500 Personen diesen Kurs. Davon haben 60 Prozent nach einem Jahr einen Job», sagt Marianne Riedwyl (55), Leiterin Bildung beim SRK. Viele andere belegten den Kurs, um Angehörige zu Hause besser pflegen zu können, und suchten deshalb nach dem Abschluss gar keinen Job, so Riedwyl. «Nur 13 Prozent sind nach einem Jahr noch auf Stellensuche.»
Klar ist aber: Wer definitiv im Gesundheitsbereich arbeiten wolle, sollte eine weitere Ausbildung machen. «Der SRK-Kurs ist ein kurzes Angebot mit 120 Lektionen Theorie und zehn bis 15 Tagen Praktikum», so Riedwyl. «Für ein vertieftes Wissen kann man anschliessend eine verkürzte, zweijährige Berufslehre nachholen. Das geht auch noch mit 55.»
«Es braucht ausgebildetes Pflegepersonal»
Das Problem des fehlenden Fachwissens betont auch Yvonne Ribi (44), Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner. Sie versteht den Frust von Andrea Richard, aber: «Der Pflegemangel betrifft hauptsächlich gut ausgebildetes Pflegefachpersonal.» Die Pflegeassistentinnen und -assistenten machten einen guten und wichtigen Job. «Aber es fehlt hier weniger an Personal in den Heimen.»
Andrea Richard glaubt trotzdem an ihre Chance auf einen Job in der Pflegeassistenz. «Das Ganze nagt zwar an meinem Selbstwertgefühl. Ich fühle mich zunehmend nutzlos. Die Hoffnung gebe ich aber noch nicht auf – und suche weiter.»
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