Der Kapitän steht auf der Reling und taucht einen langen Schiffshaken ins trübe Wasser. Yvan Durig (62) zieht den Stab wieder raus, mustert die dunkle Stelle, die der Lac des Brenets – oder was von ihm übrig ist – auf dem Holz hinterlassen hat, und sagt: «50 Zentimeter.» Einen Meter Wasser bräuchte sein Passagierschiff Jumbo unter dem Kiel, um fahren zu können. «Der Regen von Ende letzter Woche hat nicht gereicht», sagt er und befestigt den Schiffshaken wieder am Boot, das auf Grund festsitzt.
Durig schaut zum Quai der Hafenanlage rüber. Auf einer saftig grünen Wiese liegen dort die Anleger, über die normalerweise die Fahrgäste in seine Schiffe steigen, genauso wie die Stege, an denen die Fischerboote festgemacht sind, die Durig vermietet, verkauft und unterhält.
Yvan Durigs Lebenswerk liegt auf dem Trockenen.
Der Lac des Brenets ist zum Symbolbild für die Dürre in der Schweiz geworden. Kaum ein Newsportal in der Schweiz, das nicht ein Bild von Durigs gestrandeten Schiffen veröffentlichte. Ein weiteres skurriles Foto zur Illustration dieses heissen Sommers. Doch für Yvan Durig ist die Trockenheit nichts Symbolisches. Für ihn steht gerade alles auf dem Spiel. Alles, was seine Familie in sechs Jahrzehnten aufgebaut hat.
Gegründet hat die Navigation sur le Lac des Brenets (NLB) sein Vater Jean-Claude Durig (85). Er zeichnete und konstruierte die Schiffe, die bis heute unter der Flagge der NLB den Lac des Brenets befahren. Jumbo,» gebaut im Jahr 1972, 120 Plätze. Géo, Jahrgang 1979, 117 Plätze. Echo, gebaut 1990, 60 Plätze.
Sogar auf dem Walen- und dem Genfersee fahren Schiffe, die hier oben in der hintersten Ecke des Kantons Neuenburg, an der französischen Grenze, gebaut wurden. «Mein Vater hat das hier alles aufgebaut – unglaublich, nicht?», sagt Yvan Durig. Sieben Angestellte arbeiten heute für die NLB, unter ihnen auch Durigs Frau Sophie (55) und die beiden Töchter Lindsay (31) und Emily (28).
Richtig reich wurden die Durigs nicht, aber für ein gutes Leben reichte die Schifffahrtsgesellschaft alleweil. Die Deutschschweizer kamen gerne im Sommer, sie machten einen Grossteil der Gäste aus. Sogar der Bundesrat war auf dem Bundesratsreisli da. Durig hat ein Bild, das seine Familie mit Didier Burkhalter zeigt.
«Lindsay, wie viele Passagiere hatten wir an einem guten Tag?», ruft Kapitän Durig in Richtung Buvette, wo seine Tochter gerade einen Espresso rauslässt. Der kleine Kiosk mit Getränken und Snacks ist für den Familienbetrieb im Moment die einzige Einnahmequelle am See, seit Durig am 14. Juli den Betrieb einstellen musste. «300!», ruft sie.
23'000 Passagiere fehlen seit der Trockenheit. Juli, August sind Hochsaison. 15 Franken kostet die 40-minütige Fahrt bis zum Saut du Doubs, dem Wasserfall am Ende des Sees, und zurück. Über 300 000 Franken hat der Familienbetrieb schon verloren. Hilfe vom Staat gibt es bisher keine.
«Ein Verlust ist dieses Jahr garantiert. Aber das können wir kompensieren. Wenn wir aber nächste Woche den Betrieb nicht wieder aufnehmen können, dann haben wir Ende Oktober ein grosses Problem», sagt Durig und schaut auf die Tischplatte. Aufs Wochenende sei Regen angesagt, sagt er. Aber wie viel? Reicht es, damit Jumbo wieder Wasser unter dem Kiel hat?
Die Schweiz trocknet aus – nicht nur im Neuenburger Jura. Den ganzen Sommer über poppten Nachrichten auf, die sich jetzt gegen Ende des Sommers zu einem beängstigenden Bild zusammenfügen.
17. Juli: Die Bewohnerinnen und Bewohner von Mendrisio TI sollen Wasser sparen. Trinkwasser dürfen sie nach Aufforderung der Behörden nur noch für den Haushalt benutzen.
«Schweizer Bauer»
21. Juli: Helikopter müssen Vieh in den Freiburger Alpen mit Wasser versorgen.
«Freiburger Nachrichten»
25. Juli: Die Nullgradgrenze steigt auf 5184 Meter über Meer.
SDA
1. August: Nur gerade im Kanton Basel-Stadt ist Feuerwerk erlaubt. In allen anderen Kantonen ist das Abbrennen ganz oder teilweise verboten.
SRF
5. August: Die Schifffahrt auf dem Rhein leidet unter der Trockenheit und dem Ukraine-Krieg. Frachter können nur noch mit deutlich geringerer Kapazität beladen werden – die Transportpreise haben sich vervielfacht.
«Neue Zürcher Zeitung»
8. August: Auf dem Stockji-Gletscher taucht eine Leiche auf. Stephan Bolliger, Facharzt für Rechtsmedizin am Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich, sagt: «Bisher werden bei uns am Institut höchst selten Gletscherleichen untersucht.» Es sei davon auszugehen, dass aufgrund des Rückgangs der Gletscher vermehrt Leichen oder Leichenteile aufgefunden werden könnten.
«Blick»
12. August: Die beiden Gletscher Scex Rouge und Zanfleuron im Kanton Waadt sind stark zurückgegangen und haben einen Pass freigelegt.
«Blick»
17. August: «In gewissen Regionen (Westschweiz und Jurabogen) ist es schon länger extrem trocken und das Gras verdorrt. Die Betriebe dort müssen die Tiere mit Futter ernähren, das eigentlich für den Winter gedacht ist. In den letzten vier Wochen sind die Schlachtungen von Kühen – wohl deshalb – um 20 Prozent (gegenüber dem gleichen Zeitraum im Vorjahr; Anm. d. Red.) angestiegen.»
Sandra Helfenstein, Sprecherin des Bauernverbands
Was passiert hier gerade? Verändert sich die Schweiz für immer? Oder ist dieser trockene Sommer einfach eine Ausnahme? In Zürich gibt es eine Professorin, die darauf eine Antwort hat.
Sonia I. Seneviratne (48) stellt zwei Gläser Wasser auf den runden Sitzungstisch. Sie ist Professorin für Land-Klima-Dynamik an der ETH Zürich, eine der meistzitierten Forscherinnen überhaupt – und eine der einflussreichsten Klimaexpertinnen der Welt. Aus ihrem Eckbüro in einem unscheinbaren ETH-Gebäude sieht man über die Stadt. Im Büchergestell steht der Klimabericht des Weltklimarats, bei dem Seneviratne eine der Hauptautorinnen war.
Frau Seneviratne, wie speziell ist dieser Sommer?
Sonia I. Seneviratne: Für diesen Sommer müsste man ein neues Wort erfinden: Hitzedürre. Wir haben hier in der Schweiz den trockensten je gemessenen Sommer. Das zeigen unsere Daten. Aber es ist eben nicht nur sehr trocken, sondern auch noch sehr heiss. Das hat einen doppelten Effekt: Es kommt nicht nur kein Wasser von oben, sondern die Feuchtigkeit im Boden verdunstet auch noch schneller – und wenn die Böden ausgetrocknet sind und Verdunstung nicht mehr stattfindet, heizt das das Klima weiter auf.
Seneviratne weiss so gut Bescheid wie niemand sonst, wie es um die Trockenheit der Böden steht. Sie hat ein Messsystem aufgebaut, «Swiss-SMEX», mit dem sich in der Schweiz die Bodenfeuchtigkeit in bis zu 50 cm Tiefe aufzeichnen lässt. Seit 2008 existiert das System. Die Messungen dieses Jahres sind alarmierend. Trotz 48 Stunden Regen am letzten Wochenende ist der Boden immer noch trockener als je zuvor zu dieser Zeit.
Und was müssen wir tun, damit die Sommer wieder normal werden?
Seneviratne: Das ist, was viele Leute nicht verstehen. Es wird nicht wieder normal. Das hier ist das neue Normal. Dieser Sommer ist kein Ausblick in die Zukunft. Er ist unsere Gegenwart. Unsere neue Normalität ist das Extreme: Sommer, wie der vor einem Jahr, mit Starkniederschlägen und Überschwemmungen, gefolgt von Sommern wie diesem, wo es heiss ist und kaum regnet. Selbst wenn niemand auf der Welt mehr Auto fahren oder fliegen und alle Gas- und Kohlekraftwerke abgeschaltet würden, müssen wir die nächsten Jahrzehnte mit dieser Art von Sommer leben. Und wenn wir nichts tun, wird es noch viel, viel schlimmer.
Wieso ist es so heiss und trocken in der Schweiz?
Seneviratne: Die Trockenheit und die Hitze sind eine Folge der Klimaerwärmung. 98 Prozent der globalen Klimaerwärmung sind menschengemacht. An diesen Fakten gibt es wissenschaftlich keinen Zweifel. Wir haben uns in der Schweiz daran gewöhnt, dass wir in einer globalisierten Welt lokale Ereignisse kompensieren können. Aber die Pandemie und die Klimakatastrophe zeigen uns eben, dass dies nicht mehr funktioniert. Wenn die ganze Welt keine Masken mehr hat, dann haben auch wir keine mehr. Wenn die ganze Welt von Dürre und Hitze betroffen ist, dann kann man eben nicht einfach Rohstoffe aus anderen Regionen der Welt beziehen. Selbst als reiche Schweiz nicht. Geld kann man nicht essen oder trinken.
Kapitän Durig sitzt vor der Buvette in seinem Hafen ohne Wasser. Er sagt: «Ich zweifle nicht am Klimawandel. Aber ob das Verschwinden des Lac des Brenets eine Folge davon ist, dafür fehlen mir bis jetzt die Beweise.» In der Region redet man darüber, dass es auch daran liegen könnte, dass die Franzosen mehr Wasser abpumpen, die sie für die vielen Einfamilienhäuser brauchen, die in den letzten Jahren gebaut wurden. Aber dass sich etwas verändert, das sieht auch Durig. Vor sich hat er einen Stapel Papiere mit Zahlen und Kurven. «Ich bin kein Experte, ich beobachte nur», sagt er.
Jeden Tag misst er im See Pegelstände und Abflussgeschwindigkeiten. Dieses Jahr meldete ihm seine Tochter Zahlen, die nicht stimmen konnten. Immer Mitte Juni und Mitte August lässt der Doubs den See erst ansteigen, um danach wieder abzufliessen, um ungefähr 15 cm pro Tag. Ein Naturphänomen. Doch dieses Jahr zog sich das Wasser viel schneller zurück, 22 cm pro Tag, über fast eine Woche lang. Durig sagte seiner Tochter, sie solle die Zahlen noch mal überprüfen. Das könne nicht sein. Doch es war so. «Irgendetwas Komisches geht hier vor», sagt er heute.
Einen ausgetrockneten See erlebt Durig nicht zum ersten Mal. Das kommt vor hier oben. Durig rattert die Jahre runter, in denen der See leer war. 1962 und 1964. 1976 und 1978. 1984. «Seit wir diesen See beobachten, kommt die Trockenheit fast immer zweimal hintereinander. Im Doppelpack», sagt er. Doch nun leerte er sich gleich dreimal. 2018, 2020 und 2022. Das hätten sie so noch nie erlebt, sagt Durig. Und auch dass Gras wächst, wo noch vor kurzem Wasser war – das hat weder Yvan Durig noch sein Grossvater je gesehen. «Ich versuche trotzdem, optimistisch zu bleiben», sagt Durig.
Seine Frau Sophie seufzt, es seien schwierige Zeiten. Ihr Mann habe letzte Woche auch noch seine Mutter verloren. Als sie gestorben sei, habe es geregnet. «Als ob sie da oben zum Rechten gesehen hat», sagt sie.
Durig lächelt. Über ihm hängt eine Anzeigetafel, die die nächste Abfahrt ankündigt. Dort steht: --:--.
Auf der Webseite können Sie sich über die Betriebszeiten der Schifffahrtsgesellschaft informieren. Die Hafenbar ist täglich von 10.30 Uhr bis 18 Uhr geöffnet – auch wenn die Schiffe nicht fahren.