Auf einen Blick
Ernst Schrämli glaubte nicht, dass er sterben würde. Sicher nicht, wegen so einem «Seich», den er da gemacht hatte. Seinem Bruder Otto sagte er: Sobald er aus dem Gefängnis komme, mache er einen guten Weg. Dann gehe er richtig arbeiten. So erinnert sich der Bruder im Dokfilm «Die Erschiessung von Ernst S.» von 1976. Doch es kam anders.
In der Nacht vom 10. November 1942 karrte man Ernst Schrämli und 20 Soldaten in ein Wäldchen bei Jonschwil SG, band ihn an ein abgeästetes Tannenstämmchen und liess die Soldaten auf ihn schiessen. Er war nicht sofort tot. Ein Hauptmann schoss ihm mit der Pistole in den Kopf.
Ernst Schrämli war erst 23 Jahre alt und Militärfahrer, als er starb. Er war ein Lebemann aus dem St. Gallischen, ein Feingeist aus mausarmen Verhältnissen und, wie man heute weiss, er hatte wertlose Militärinformationen an die Deutschen weitergereicht. Schrämli war der Erste, den man als Landesverräter hinrichtete. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs folgten 16 weitere.
Auf Ernst Schrämli basiert der Spielfilm «Landesverräter», der kommende Woche in den Kinos anläuft. Das Thema, das mitschwingt, reicht jedoch weit über sein Einzelschicksal hinaus: die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Die Erschiessung der Männer wirft Fragen auf: Warum verurteilte die Militärjustiz sie zwischen 1942 und 1945 wegen Landesverrats zum Tod – zum ersten Mal überhaupt seit der Gründung des Bundesstaats? Wer waren diese Männer? Und was ihre Vergehen?
Wir sprachen mit dem Historiker Jonas Stöckli, der sich diesen Fällen sieben Jahre lang widmete. Er reichte an der Universität Bern die Doktorarbeit «Exempel» ein, die uns vorliegt. Auf 1500 Seiten arbeitete er die Todesurteile und deren Umstände auf – als Erster so umfassend. Stöckli weiss: Es traf vor allem Menschen wie Ernst Schrämli, die weniger Glück gehabt hatten im Leben. Und das mitunter wegen Bagatellvergehen. Schon 1980 hielt der Jurist Peter Noll (1926–1982) im Buch «Landesverräter» fest: «Die Notverordnung des Bundesrates führte die Todesstrafe für Fälle ein, in denen sie selbst im Kriegsfall nach dem Militärgesetz nicht zulässig gewesen wäre.»
Die Schweiz und die Nazis: ein Zickzack-Kurs
Stöckli bringt nun die Umstände der Hinrichtungen ans Licht. Und gibt den Landesverrätern eine Geschichte. Er zeigt: Die Männer starben, weil die Schweizer Führung mit den Todesurteilen ein Zeichen setzen wollte.
Alles begann 1940. Hitler und seine Panzer überrollten innert kurzer Zeit die neutralen Benelux-Staaten und Frankreich – ausgerechnet die Armee der «Grande Nation», die als stärkste in Kontinentaleuropa galt. Die Schweiz fürchtete den Angriff der Deutschen. Panik brach aus. General Henri Guisan (1874–1960) schlief im Mai zum ersten Mal in seinem Kriegsbunker. Frauen und Männer im nördlichen Grenzgebiet flüchteten mit Kind und Kegel in die Inner- und Westschweiz, ins Tessin und ins Berner Oberland. Die Regierung sollte nun endlich mehr tun, forderte das Volk. Die Folge, so Stöckli: «Die Schweiz demonstrierte einerseits ihre Widerstandsbereitschaft und passte sich gleichzeitig an die Dominanz Nazideutschlands in Europa an.» Sie hielt sich also alle Optionen offen. Und verstrickte sich in Widersprüche.
Einerseits führte 1940 der Bundesrat per Notverordnung die Todesstrafe ein. Sie sollte nur während des Kriegs und nur für Landesverräter gelten, die also für den Feind arbeiteten. Ein Zeichen der Wehrhaftigkeit. Andererseits trieb er den Handel mit Nazideutschland voran. Emil Bührle (1890–1956) steigerte so das Vermögen seiner Waffenfabrik von 8 Millionen Franken im Jahr 1939 auf 112 Millionen im Jahr 1945. Hinzu kommt: Auf höchster Ebene sympathisierte man mit den Nazis.
Nach dem Fall Frankreichs hielt Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz (1889–1958) am 25. Juni 1940 im Namen des Gesamtbundesrats eine Rede – die umstrittenste überhaupt in der Schweizer Geschichte: «Schmerzhafte Verzichte» und «schwere Opfer» bei der «Anpassung an die neuen Verhältnisse (...) ausserhalb veralteter Formeln» stünden bevor. Er sprach von «Wiedergeburt» und davon, dass jeder den alten Menschen ablegen müsse. Der gleiche Pilet-Golaz empfing wenige Monate später sogenannte neonazistische Frontisten, die den Anschluss der Schweiz an das Dritte Reich propagierten.
Das Volk hatte genug
Historiker Stöckli sagt: «All das legte den Boden für die militärischen Hinrichtungen.» Bis dahin gab es kein Todesurteil. Doch 1942 zeichnete sich ab: Deutschland würde den Krieg verlieren. Die Stimmung im Land, im Volk, im Militär kippte. Nun kam vermehrt Kritik auf, zu zurückhaltend seien Bundesrat und Militärjustiz gegenüber dem Feind. Im August 1942 reagierte General Guisan. In einem Brief an den Leiter der Militärjustiz schrieb er: Die Gelegenheit sei gekommen, «die Todesstrafe auszusprechen». Seine Absicht: Die Todesurteile sollten die Schweiz als geschlossene Widerstandsnation darstellen.
33 Menschen verurteilten die Militärgerichte bis Kriegsende wegen des Verrats von militärischen Geheimnissen zum Tod. Doch «nur» 17 Männer richtete man hin, die anderen flohen oder waren bei der Verurteilung im Ausland. Zufall ist das nicht. Das fiel schon der Historiker-Legende Edgar Bonjour (1898–1991) auf. Im Dokfilm «Die Erschiessung von Ernst S.» von 1976 sagt er, als er glaubt, die Kamera sei schon aus: «De Chliner hanget ehnder als der Grösser.» Manche wie Ernst Schrämli starben, weil sie militärische Anlagen verraten hatten, die die Deutschen schon kannten, die jeder Passant von weitem sehen konnte oder die es gar nicht mehr gab.
Lange geisterte Bonjours Satz als These herum. Nun hat Jonas Stöckli für seine Dissertation die 344 Spionagefälle, in denen Menschen mit der Todesstrafe bedroht waren, systematisch analysiert – dabei die schweren Fälle besonders genau. Er sagt: «Die Urteile folgten einer Klassenjustiz.» Stöckli hat ausgewertet: Zwölf der Hingerichteten waren zwischenzeitlich arbeitslos, vier waren schon mal Konkurs gegangen – in einer Zeit, in der die Schweizer Arbeitslosenquote im Promillebereich lag. Zwei Drittel wuchsen in Armut oder in der unteren Mittelschicht auf, nur zwei waren gutbürgerliche Studenten.
Gutbürgerliche kamen davon
Die Richter bevorteilten die Angeklagten der Oberschicht. Ihre Strafen fielen systematisch milder aus. Sie blieben eher am Leben. Bei einem Ingenieur, der für seine Spionagetätigkeit 4500 Franken bekommen hatte, zeigte das Militärgericht im Urteil ein «strafmilderndes» Verständnis dafür, «dass er sich in einer gewissen finanziellen Notlage befand» – er bekam 15 Jahre Haft. Die mittellosen Ernst Schrämli, Fridolin Beeler (1921–1943), Erwin Philipp (1912–1943) und Hermann Vinzens (1908–1944), die 300 bis 900 Franken mit teils wertlosen Informationen verdienten, erhielten die Todesstrafe.
Stöckli zeigt auf, wie es zur Ungleichbehandlung kam. Die Richter bescheinigten Oberschichtleuten eher eine verminderte Zurechnungsfähigkeit. Und beurteilten Charakter, Lebenswandel, Motiv oft positiv und als moralisch einwandfrei. Bei einem Autounternehmer, der 7000 Franken eingesackt hatte, heisst es im Urteil mildernd: Er habe das Geld sicher nicht verprasst, sondern in seine Firma investiert und für seine Familie verwendet – Subtext: keine Spur von Gier. Im Todesurteil gegen Ernst Schrämli hingegen steht, «dass das Geldmotiv des Schrämli Ausfluss seiner arbeitsscheuen, parasitären Lebensweise» war. Und beim Automechaniker Erwin Philipp zeigten, laut der Richter, die namhaften Beträge (340 Franken), die er bekommen habe, «seine wahre Gesinnung» – also: schlechte.
Hart traf es den Bäckereiangestellten Fridolin Beeler, ihn erfasste ein Hitler-Wahn. Der Gerichtspsychiater stellte bei ihm eine schizoide Psychopathie fest und schrieb im Gutachten: «Dem medizinischen Beurteiler widerstrebt es, diesen Menschen für seine Vergehen voll verantwortlich zu erklären, schon weil weniger das Verbrecherische als das Krankhafte an ihm in die Augen springt.» Die Richter befanden: voll zurechnungsfähig.
Klassenjustiz, Hinrichtung wegen Bagatelldelikten und von psychisch Erkrankten – all das liegt seit 80 Jahren im Dunkeln. Vielleicht zeigt die Tatsache, dass der «Landesverräter»-Spielfilm nun anläuft, dass die Zeit reif für eine nationale Debatte ist.