Die Schweiz befindet sich in einer vergleichsweise komfortablen Lage: Sie kann das Ende der Corona-Lockerungen diskutieren. Dies, während das Virus in Nationen rund um den Erdball wie ein Brandbeschleuniger wirkt. In Frankreich protestieren das dritte Wochenende in Folge 200'000 Menschen gegen die Corona-Politik der Regierung.
Auf der ganzen Welt kommt es zu Ausschreitungen im Sog der Pandemie. In Thailand kursieren Putschgerüchte um die Regierung, die von allen Seiten wegen Covid-Missmanagement zum Rücktritt aufgefordert wird. Auch in den Schwellenländern Peru, Haiti und Tunesien nehmen politische Instabilität und soziale Unruhen zu. Teilweise gewaltsame Auseinandersetzungen werden zudem aus dem Iran, Kuba, Südafrika und Kolumbien gemeldet.
Die Länder sind nach eineinhalb Jahren Pandemie am Rande ihrer Kräfte. Das Virus hat die schwierige wirtschaftliche und soziale Lage vielerorts noch verschärft. Das Vertrauen in die politische Führung ist dahin. Angesichts der Wirtschaftsdaten und politischen Lage weist in Europa auch Italien Ermüdungserscheinungen auf. Dies, während die Schweiz – wie zahlreiche reiche Länder auch – die Pandemie weitgehend unter Kontrolle gebracht zu haben scheint. Der Bundesrat erntet allgemein mehr Anerkennung als Kritik für sein Covid-Krisenmanagement. Dabei wächst der Druck auf die Landesregierung, die Normalisierungsphase einzuläuten.
Spaltung der Gesellschaft befürchtet
Namhafte Epidemiologen fordern, dass zum Beispiel die Maskenpflicht fallen und das Covid-Zertifikat an weniger Orten gezeigt werden soll. «Jeder und jede hat nun die Gelegenheit gehabt, sich impfen zu lassen», sagt Marcel Tanner (68), ehemaliges Mitglied der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes, der «Sonntagszeitung». Die Normalisierungsphase könne schon im August eingeläutet werden. Diese Phase «muss heissen, dass sich der Staat zurückzieht und jeder die Verantwortung selber übernimmt», so der Epidemiologe. Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr und in gewissen öffentlichen Räumen sei indes weiterhin gerechtfertigt.
Tanner fürchtet eine Spaltung der Gesellschaft. Selbst wenn in der Schweiz viele Freiheiten wieder zurückerlangt sind, müsse das Land zur «Normalität zurückfinden, weil sonst wieder Diktaturvorwürfe hochkochen und die Gesellschaft spalten» - eine Einschätzung, die auch der Epidemiologe Marcel Salathé (46) teilt. Wegen des Konflikts zwischen Geimpften und Ungeimpften werde das politische Klima immer giftiger und «Freundschaften gehen in Brüche», sagte Salathé den Tamedia-Zeitungen.
Epidemiologe Andreas Cerny mahnt zu gewisser Vorsicht bezüglich Öffnungswünschen. Er begrüsst das Zögern des Bundesrates, nicht schon auf Anfang August weiter gelockert zu haben. Vor allem wegen der Ferienrückkehrer herrsche eine grosse Unsicherheit. «Wenn sich die Entwicklung jetzt nicht noch verschlechtert und es bei der Impfung noch einen Schub gibt, werden meines Erachtens im September Lockerungen und ein Schritt Richtung Normalisierung möglich sein», so Cerny.
Grosser Test im Herbst
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) sieht den Zeitpunkt für den Beginn der Normalisierungsphase gekommen, wenn alle Impfwilligen geimpft sind. Das sei laut BAG noch nicht der Fall. Auch Lukas Engelberger, Präsident der Gesundheitsdirektoren-Konferenz, macht entsprechende Lockerungen von Impffortschritten abhängig. Die Vergangenheit habe gezeigt, dass es «immer wieder Überraschungen geben kann.» Corona-Massnahmen Schritt für Schritt aufzuheben, «das braucht Geduld. Die Normalisierungsphase wird relativ lange dauern.» Wie lange, könne er nicht sagen.
Der grosse Test komme im Herbst, so Engelberger. «Wenn es draussen kühler wird, werden wir sehen, ob wir gut aufgestellt sind.» Für den Basler Regierungsrat ist es durchaus möglich, dass die Massnahmen allenfalls wieder verschärft werden müssen. Denn die Lage muss ständig neu bewertet werden. Erst sollte es für die Normalisierungsphase Ende Juni so weit sein, dann im Juli. Nun wird vom Bund kein konkretes Datum mehr genannt.
Ball liegt bei Kantonen
Die Hälfte der Bevölkerung ist noch immer nicht geimpft. Dabei haben die Kantone dem BAG Bericht zu erstatten, «sobald die gesamte impfbereite Bevölkerung in ihrem Gebiet Gelegenheit hatte, sich impfen zu lassen», wie es im Drei-Phasen-Modell des Bundesrates vom Mai heisst. Dieser Meldepflicht seien sich viele Kantone offenbar nicht bewusst, wie die «NZZ am Sonntag» berichtet. Eine Umfrage der Zeitung bei den Kantonen bestätigte, dass einige einen Bericht gar nicht vorsehen. Aus dem BAG verlautet sogar, man habe «noch keine entsprechende Rückmeldung bekommen».
Demnach erachten acht von 13 Kantonen, die auf eine Anfrage geantwortet haben, dass man alle oder praktisch alle Impfwilligen geimpft habe (AG, AR, BE, GE, GL, SG, ZG, ZH). Zürich will Ende August detailliert Bilanz ziehen. Kantone, die noch nicht so weit sind (BL, BS, LU, OW, SZ), zeigen sich dennoch zuversichtlich: «Wir sind kurz davor, diesen Punkt zu erreichen», sagt Engelberger, seines Zeichens auch Gesundheitsdirektor von Basel-Stadt.
«Es besteht Raum für ein optimistisches Szenario», ergänzt Engelberger mit Blick auf die Situation in den Niederlanden und Grossbritannien, wo sich die Lage entspannt. Er gehe aber nicht davon aus, «dass das Zertifikat schlagartig verschwinden wird. Bei einer Überlastung des Gesundheitswesens könnten sogar neue Massnahmen verfügt werden.» Im Gespräch ist etwa die Zertifikatspflicht für Anlässe oder Besuche in Heimen und Spitälern. Das BAG geht bereits jetzt einen Schritt weiter: Es forderte die Kantone auf, in Spitälern und Heimen eine Testpflicht für Mitarbeiter und Besucher einzuführen, die weder geimpft noch genesen sind. (kes)