Abwarten und Zögern hätten einige Deutschschweizer Kantone in eine arge Corona-Lage gebracht. Das sagt der Genfer Virologe Antoine Flahault, Direktor am Institut für globale Gesundheit der Universität Genf. Flahault vergleicht die Situation in der Deutschschweiz mit dem Auf und Ab in den USA. Menschen müssten sich noch deutlich vorsichtiger verhalten, um das Virus unter Kontrolle zu bringen.
Im Gespräch mit dem «Tages-Anzeiger» stellt der Genfer Epidemiologe den Deutschschweizer Kantonen kein gutes Zeugnis aus. Die Kantone in der Romandie würden sich nach scharfen Massnahmen «langsam der Sicherheitslinie» nähern. In der Deutschschweiz dagegen sei die Lage teilweise «besorgniserregend». Dies nach Optimismus im November, die Infektionskurve zu brechen.
«Die meisten Kantone sind in der schlimmsten Situation»
Als Negativbeispiele führt er Basel-Stadt, den Aargau und Zürich an, die es nicht schaffen, die Reproduktionszahl R unter 1 zu senken. Dies wäre für einen markanten Rückgang der Fallzahlen nötig. Doch auch Neuenburg und Freiburg seien keinesfalls in der Sicherheitszone. Flahault: «Die meisten Kantone sind in der schlimmsten Situation: Sie verharren auf dem Höhepunkt der zweiten Welle mit einer starken Aktivität des Virus.»
Die Kantone hätten das «Gefühl, die Situation sei einigermassen stabil – aber sie kann jederzeit sehr schnell ausser Kontrolle geraten». Insbesondere der Aargau riskiere eine sehr starke weitere Welle. Ist das Virus weit verbreitet, erreicht es auch mehr Personen aus Risikogruppen, und die Spitäler können sich plötzlich sehr schnell füllen.
Parallelen zu Amerika
Der Virologe vergleicht die Lage in der Schweiz mit der Entwicklung in den USA. Dort sei das Virus über den ganzen Sommer nicht unter Kontrolle gebracht worden, entsprechend stark nehmen die Infektionszahlen wieder zu. «Die Gefahr dieses Szenarios wächst für die Schweiz, weil das Virus winterliche Bedingungen liebt und das Winterwetter eben erst begonnen hat.»
Besorgt blickt der Virologe den Festtagen entgegen. Das Virus werde «generationenübergreifende Treffen wie am Jahresende nutzen, um sich in der ganzen Gesellschaft zu verbreiten. Ergreifen die Kantone keine weiteren Massnahmen, drohen sie die Kontrolle zu verlieren.»
Die frühere Schliessung von Restaurants sei eine Alibiübung: «Die politischen Behörden in der Schweiz probieren, das Sozialleben und das Wirtschaftsleben an die erste Stelle zu setzen und nicht allzu stark einzuschränken. Dabei machen sie einen Denkfehler: Alle Länder, welche die Gesundheitssituation entschieden und mit Kraft angegangen sind, haben die Fallzahlen schneller runtergebracht und konnten das Sozial- und Wirtschaftsleben schneller in Gang bringen.»
Romandie griff durch
Aus Sicht des Epidemiologen sei klar: «Die bisherigen Antworten der Schweiz auf die zweite Welle genügen nicht.» In der Romandie, wo die scharfen Massnahmen zweifellos gewirkt hätten, würden diese Woche wieder Restaurants öffnen. Der Infektionsdruck bleibe aber hoch. Der Winter beginne ja erst. Der Experte empfiehlt besseres Contact-Tracing, konsequentere Isolation und Kontaktquarantäne, mehr Homeoffice, mehr Distanz und bessere Lüftungen in Bars und Restaurants. «Reicht das nicht aus, befürchte ich ein ständiges Auf und Ab.»
Leute seien «müde, und sie leiden, wirtschaftlich und sozial». Insbesondere junge Menschen hätten genug von den einschneidenden Einschränkungen, weil sie für sich selbst keine grosse Gefahr sehen. Schliesslich seien vorab Ältere über 50 gefährdet. Flahault nennt die Ansicht der Jungen «falsch, aber nicht ganz unverständlich».
Er appelliert an die Bevölkerung, soziale Kontakte drastisch einzuschränken und auf Besuche bei Familie und Freunden zu verzichten. Menschen sollten Restaurants, Bars und schlecht belüftete Orte meiden und zu Hause arbeiten. Flahault wiederholt die drei Grundregeln: Maske tragen, Abstand halten, Hände waschen. (kes)
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