Darum gehts
- Werner Oechslins Bibliothek steht vor finanziellen Herausforderungen. Zukunft ungewiss
- Oechslin erwägt Gespräche mit ausländischen Institutionen zur Rettung der Bibliothek
- Die Sammlung umfasst 80'000 Werke mit geschätztem Wert von 30–40 Millionen Franken
Werner Oechslin ist enttäuscht von seiner Heimat. Von der Schweiz. Und von Einsiedeln, wo er geboren und aufgewachsen ist. «Weil es hierzulande an Visionen fehlt», sagt er. Weil nur das zählt, was unmittelbar sichtbaren Nutzen bringt.
Doch wie misst man den Wert von Wissen und Kultur? Und wie macht man deren Bedeutung verständlich? Es sind solche Fragen, die Werner Oechslin umtreiben. In letzter Zeit mehr denn je. Für ihn geht es schliesslich um nicht weniger als sein Lebenswerk.
Werner Oechslin ist Kunst- und Architekturhistoriker, 80 Jahre alt und hat wache Augen, die hinter seiner Brille hervorblitzen. Während 20 Jahren leitete der emeritierte ETH-Professor das Institut für Geschichte und Theorie der Architektur.
Bibliothek im Botta-Bau
Seit seiner Jugend sammelt Oechslin Bücher. Aus der Sammlung ist eine der wichtigsten privaten Forschungsbibliotheken Europas entstanden. Die «NZZ» bezeichnete sie einmal als «grandiosen Arche», der Kanton Schwyz spricht von einem «kulturellen Juwel» und Mitte-Nationalrat Gerhard Pfister gar von einem «bibliothekarischen Kunstwerk».
Oechslins Bibliothek liegt direkt am Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Sie ist in einem markanten, backsteinroten Bau untergebracht, der sich auf einem kleinen Hügel am Rande von Einsiedeln erhebt – mitten im Garten des Familienanwesens, in unmittelbarer Nähe des Klosters. Es ist ein schmales Gebäude mit klarer Linienführung: die eine Seite gerade, die andere sanft gewölbt. Eine Treppe führt hinauf zu einer grossen Glasfassade.
Jetzt steht Oechslin im Eingangsbereich, der in das milde Licht der Aprilsonne getaucht ist. «Te lo faccio stanotte» – Ich machs dir heute Nacht –, habe Architekt Mario Botta gesagt, erinnert sich Oechslin. Damals, als er ihn damit beauftragte, Pläne für seine Bibliothek zu entwerfen. 2006 wurde der Bau schliesslich vom damaligen Bundesrat Pascal Couchepin eingeweiht und in Betrieb genommen.
Sammlung mit Millionenwert
«Sapere aude» – Wage es, weise zu sein – steht über einer der zahlreichen Türen, die in das Herzstück – den Lesesaal – führen. Es herrscht absolute Stille. Nur eine Stipendiatin aus Korea sitzt an einem langen Tisch in der Mitte des Raums, über ein Buch gebeugt. Zu beiden Seiten ragen Regale bis unter die Decke, dicht gefüllt mit Büchern und durch Gitter geschützt.
Oechslin hat es stets gestört, dass man in klassischen Lesesälen höchstens drei Bücher an den Platz mitnehmen durfte. In seinem gilt eine andere Devise: «Herausnehmen und anfassen» – und zwar so viele Exemplare, wie man möchte.
Die Bibliothek umfasst heute rund 80’000 Werke, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Der Schwerpunkt liegt auf Quellenschriften zur Architekturtheorie vom 15. bis 20. Jahrhundert, ergänzt durch Werke aus Disziplinen wie Kunst, Mathematik oder Philosophie. Viele Bände sind Erstausgaben, einige weltweit nur in Einsiedeln nachgewiesen. Es gibt Schätzungen des Werts von 30 bis 40 Millionen Franken.
Oechslin schlägt die 1503 erstmals in Freiburg im Breisgau gedruckte Enzyklopädie der «Margarita Philosophica» auf. Danach holt er die Strassburger Ausgabe von 1508, die das erste im Norden gedruckte architekturtheoretische Traktat enthält, hervor. Zu seinen Lieblingswerken gehört die erste lateinische Gesamtausgabe von Aristoteles Schriften, die aus dem 15. Jahrhundert stammt. Die Werke mögen alt sein, aber Oechslin hat sich fest vorgenommen, in die Zukunft zu gehen, nicht stehen zu bleiben. Das heisst: forschen, publizieren, Tagungen organisieren.
In Werner Oechslins Bibliothek ist nichts dem Zufall überlassen. Im Untergeschoss führt er in eine Rotunde, über deren Decke sich ein gemaltes Firmament spannt. Der Raum ist nach Himmelsrichtungen geordnet: Im Norden blickt eine Büste Goethes ins Rund, im Westen wacht Voltaire – dort haben die Aufklärer und ihre Enzyklopädien ihren Platz gefunden.
Immer wieder zieht er während der Führung Werke aus den Regalen. «Das habe ich auf einem Trödelmarkt in Rom entdeckt», sagt er beiläufig. Gute Buchhändler seien rar geworden. «Aber ich habe gute Kontakte», sagt er. Viele Händler schicken ihm ihre Kataloge im Voraus oder melden sich direkt, wenn sie glauben, ein Werk entdeckt zu haben, das zu seiner Sammlung passen könnte.
Finanzielle Nöte
Die Bibliothek, die von einer Stiftung getragen wird, steht seit ihrer Gründung auf finanziell wackligen Beinen. Zwar hatte die ETH sie jahrzehntelang unterstützt, ein geplanter Kauf der Bibliothek für 11,5 Millionen Franken, wobei die ETH die Hälfte übernommen hätte, scheiterte jedoch 2020. In der Folge kündigte die ETH auch den Nutzungsvertrag mit der Bibliothek.
Die Hochschule begründete ihren Rückzug gegenüber Oechslin damals damit, die Verhältnisse hätten sich geändert. Laut Oechslin strebte die ETH das Eigentum der Bücher an und zeigte kein Interesse daran, ein «unabhängiges und eigenständiges» wissenschaftliches Institut zu fördern – dies zeigte sich unter anderem darin, dass sie die Bibliothek der ETH-Bibliothek unterstellte. Oechslin wirft der ETH vor, massiven Druck ausgeübt zu haben, um in den Besitz seiner Bücher zu gelangen. Das Katalogsystem der ETH, das unkündbare Eigentumsabtretungen eingefordert hätte, wäre für die Erschliessung der Quellenschriften zudem ungenügend gewesen, sagt Oechslin. Und: «Ich wollte nicht, dass wir im Meer einer riesigen Datenbank verschwinden.» Ausserdem habe er aufgrund der Praxis der ETH-Bibliothek befürchtet, dass wertvolle Werke verkauft und Dubletten zerstört werden könnten.
Daraufhin wurde ein dreijähriger Interimsvertrag zwischen der Stiftung, der ETH und dem Kanton Schwyz ausgehandelt, der bereit war, künftig die Hauptlast zu übernehmen. Der Schwyzer Kantonsrat lehnte jedoch im Juni 2024 einen jährlichen Betriebsbeitrag von 600'000 Franken für die Bibliothek ab – mit der Begründung, die Einrichtung sei eine reine Forschungsbibliothek ohne Mehrwert für die breite Öffentlichkeit. Die Entscheidung hatte weitreichende Folgen: Auch der Bezirk Einsiedeln und die ETH Zürich zogen sich aus der Finanzierung zurück. Seit Anfang Jahr steht die Bibliothek deshalb de facto ohne öffentliche Gelder da.
Bald in ausländischer Hand?
Werner Oechslin muss sich also zum wiederholten Mal fragen: Wie soll es weitergehen?
Kurzfristig gibt es eine Lösung: dank einer Spende aus dem Gönnerverein der Bibliothek kann der Betrieb noch rund zwei Jahre weiterlaufen. Aber was Werner Oechslin braucht, ist eine nachhaltige Finanzierung.
Oechslin bleibt nur noch die Hoffnung, dass sich private Unterstützer oder Institutionen finden, die den kulturellen und wissenschaftlichen Wert seiner Bibliothek erkennen – am ehesten, so glaubt er, findet er diese im Ausland. Kann es sein, dass diese Bibliothek bald in chinesischer Hand ist? Oechslin deutet an, dass es Gespräche mit einer Hochschule in Hangzhou, China gibt. Und mit Universitäten in Deutschland. «Und dann gibt es immer noch Abu Dhabi», scherzt Oechslin.
Eines schmerzt ihn besonders: Dass seine Bibliothek aus dem Ausland mehr Wertschätzung erfährt als aus seiner Heimat. Der Schweizer Wissenschaftsrat habe sie zwar als «von nationaler Bedeutung» eingestuft – «aber was nützt mir das?», fragt Oechslin resigniert.
Auf die Unterstützung der Politik hofft er längst nicht mehr. «In der Schweiz zählt nur noch der wirtschaftliche Nutzen», sagt er. Für Kultur, für Geisteswissenschaften gebe es weder Verständnis noch eine Lobby. Dabei hätte er durchaus Ideen: etwa, seine Bibliothek der Nationalbibliothek anzugliedern. Möglich wäre das, sagt Oechslin. «Aber dafür braucht es den politischen Willen.» Vielleicht erkennt es hierzulande doch noch jemand: Dass eine Bibliothek ein kulturelles Gut ist – geschaffen für die Ewigkeit. Irgendwie hofft Werner Oechslin doch noch auf seine Heimat.