«Leute sitzen sogar am Boden, weil es keinen Platz mehr hat»
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Dichtestress in Bibliotheken:«Leute sitzen sogar am Boden, weil es keinen Platz hat»

Zum Büffeln in die Bibliothek
Studierende stehen Schlange

Januar ist Prüfungszeit. Und weil viele Studierende am liebsten in Bibliotheken lernen, nehmen sie lange Wartezeiten in Kauf. Warum lernen sie nicht zu Hause, und wie begegnen Bibliotheken dem Andrang von Studierenden?
Publiziert: 09:08 Uhr
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Aktualisiert: 09:56 Uhr
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Die Schlange ist noch kurz: Hier stehen kurz nach sieben Uhr die ersten Studierenden vor der Zentralbibliothek (ZB) in Zürich an.
Foto: Benjamin Fisch

Auf einen Blick

  • Studierende stehen Schlange für Lernplätze in Schweizer Bibliotheken
  • Bibliotheken bieten konzentrierte Lernumgebung und sozialen Kontakt
  • Zahl der Studierenden in der Schweiz stieg um 15,5 Prozent in acht Jahren
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Ravena FrommeltRedaktorin Gesellschaft

Seit 7.15 Uhr steht Loris Zaltron (25) vor verschlossenen Türen der Zentralbibliothek (ZB) in Zürich. Die Bibliothek öffnet erst um 8.00 Uhr. Der Grund für das Warten in der Kälte: Der Wirtschaftsstudent will einen guten Lernplatz. Loris ist nicht der Einzige. In grosser Zahl stehen Studierende hier morgens Schlange. Januar ist Prüfungszeit.

Von zehn angefragten grossen Schweizer Bibliotheken ist für neun das Phänomen der Schlange stehenden Studierenden nicht neu. Doch wieso tun sich die Studierenden das an und lernen nicht einfach zu Hause? «Ich bin viel produktiver, wenn ich in der Bibliothek lerne», sagt Loris. Er sei hier umgeben von Menschen, die ebenfalls lernen müssen, und habe sozialen Kontakt.

Wegen der grossen Nachfrage hat die ZB die Öffnungszeiten unter der Woche verlängert. Dennoch: «Manche Leute sitzen sogar auf dem Boden, da sie keinen guten Platz mehr gefunden haben», sagt die Physiotherapiestudentin Tabea Werner (22), die ebenfalls vor der ZB in der Schlange wartet. Auch andere Bibliotheken kennen den Platzmangel in der Prüfungsphase. Die Fachhochschule Nordwestschweiz etwa schreibt auf Anfrage: «Alle unsere Bibliotheken sind in der Prüfungsphase voll.» 

15 Prozent mehr Studierende in acht Jahren

Die Schweizer Nationalbibliothek in Bern empfiehlt, Einzelkabinen oder Gruppenarbeitsräume zu reservieren. Auch die HSG hat dieses Jahr ein Projekt zur Einführung eines Platzreservationstools aufgesetzt. Die Universitätsbibliothek Bern setzt auf ein Onlinetool, mit dem Studierende vor dem Besuch die Auslastung prüfen können. Die Universitätsbibliothek Basel erhöhte ihre Zahl an Lernplätzen im Jahr 2021 von 400 auf 1000.

Die Zahl Schweizer Studierender nimmt laut Bundesamt für Statistik seit mehreren Jahren kontinuierlich zu. Gab es im Jahr 2015/16 noch rund 239’000 Studierende in der Schweiz, sind es 2023/24 276’000. Das ist ein Anstieg von 15,5 Prozent innerhalb von acht Jahren. Der Zuwachs an Studierenden ist sowohl an Unis als auch an Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen zu spüren. 

Dass viele dieser Studierenden lieber in Bibliotheken als zu Hause lernen, wundert Elsbeth Stern (67), Professorin für Lern- und Lehrforschung an der ETH Zürich, nicht: «Es kann sinnvoll sein, seinen Arbeitsplatz von der Wohnung getrennt zu halten, denn nicht alle Leute haben ein ruhiges Zuhause.» Das bestätigt auch der Lebensmitteltechnologiestudent Evan Colmo (20): «Zu Hause ist einfach zu viel Ablenkung durch digitale Geräte.» Auch die Zürcher Biologiestudentin Mia Krauthammer (18) wird nur produktiv, wenn sie ausser Haus lernt: «Das Bett ist viel angenehmer als mein Pult, darum wird zu Hause auch nicht viel gemacht.»

Der soziale Faktor spielt mit

In der Bibliothek macht man nichts anderes als arbeiten. «Man kann nicht noch die Spülmaschine kurz ausräumen oder jemanden anrufen», sagt Stern. Daneben führt die ETH-Professorin die Beliebtheit des Lernens in Bibliotheken auch auf einen sozialen Faktor zurück: «Da ist der Wunsch, nicht nur im eigenen Kämmerchen zu lernen. Man braucht mittlerweile ja nicht mehr in die Bibliothek zu gehen, um an Literatur zu kommen, aber vielleicht will man gerne unter Leuten sein und das Gefühl haben, sich in einer Gemeinschaft von Lernenden zu befinden.» 

Joël Walder (22) studiert an der ETH Zürich Chemieingenieurwissenschaften. Auch er steht heute Morgen in der Schlange vor der ZB und sagt: «Hier kann ich mich besser konzentrieren und habe nicht den Drang, ständig ans Handy zu gehen.» Er sei motivierter unter anderen Lernenden, und wenn er wieder nach Hause komme, könne er dann einfach abschalten. 

Bibliotheken sind mittlerweile so viel mehr als Literaturquellen. Wenn Studierende heute aber vor allem hierher kommen, um sich auf die Arbeit zu konzentrieren, könne ja auch ein Grossteil der Bücher entfernt werden, sagt ETH-Professorin Stern. Man könnte überlegen, die Bibliotheken ein bisschen umzugestalten und dafür mehr Arbeitsplätze anzubieten, meint die Expertin.

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