In der Schweiz gibt es drei Themenfelder, die man beim Nachbarschaftsapéro lieber auslässt: Geld, Kindererziehung und Sex. Spätestens da beginnt hierzulande die Intimsphäre des Mitbürgers, der geistige Gartenzaun, der unsere friedliche Koexistenz sichert.
Seit der Pandemie ist der Kanon der eidgenössischen Tabus um eines reicher: das der Covid-Impfung. Diese Frage spaltet ganze Gemeinschaften, Familien und Freundeskreise.
Im Zweifel behält man seinen Impfstatus lieber für sich. Die ablehnende Haltung zum Laborprodukt und damit gegenüber der Pharmabranche hat sich auf beinahe alle Teile der Gesellschaft ausgebreitet – das Naserümpfen über die Schulmedizin feiert dank Corona fröhliche Urständ.
Plötzlich sind wirtschaftsliberale Zeitgenossen, die noch in der Ära eines Daniel Vasella reflexartig Novartis, Roche und Co. gegen jeden politischen Angriff in Schutz nahmen, zu Pharmakritikern geworden. Krawattierte Bürger mit Einstecktuch huldigen Seitean Seite mit Batikträgern ihrer Ablehnung von Vakzinen und ihrem Misstrauen gegenüber der klinischen Forschung. Dafür sind es ausgerechnet linksurbane Onlineportale, von Haus aus pointierte Konzern- und Systemkritiker, die staatstragend die öffentlichen Massnahmen stützen. Einige dieser Medien wiederum werden ironischerweise auch mit Pharmafranken finanziert. Wer blickt da noch durch? Das Virus wirbelt die alte Ordnung mächtig durcheinander.
Auftrieb erhält der Chor der Impfgegner durch neue Rätsel: Weshalb bleiben die Spitaleintritte trotz höchster Inzidenzen so gering? Wie zuverlässig zeigen Tests eine Omikron-Infektion an? Wie gut wirken die Produkte von Biontech/Pfizer, Moderna und Astrazeneca tatsächlich?
Dazu hat der Blick diese Woche enthüllt, dass die Covid-Hospitalisierungen in grossen Schweizer Kliniken vom BAG statistisch aufgeblasen werden. Verschwörungstheoretiker werden sich wunderbar bestätigt fühlen.
Aktueller Held der Ungeimpften ist Tenniscrack Novak Djokovic. Für manche ist der Serbe, der in australischer Quarantäne steckt, nun endgültig zur Schwurbler-Ikone geworden. Hört man sich hingegen die Solidaritätsbekundungen larmoyanter Massnahmengegner an, scheint sich die Weltnummer eins gleich Pfeil und Bogen umzuhängen und im Sherwood Forest zu entschwinden.
Man muss den Pharmakonzernen, die den von Djokovic gemiedenen Stoff liefern, nicht in blindem Gehorsam folgen. Die Öffentlichkeit soll den Managern mit ihren astronomischen Salären und ihrem politischen Lobbying wachsam auf die Finger schauen.
Doch ist dieser neue Generalverdacht gegen die Schulmedizin, deren zuweilen parareligiöse Dämonisierung, unfair und ungesund.
Seit 1948 die AHV eingeführt wurde, ist die Lebenserwartung in der Schweiz um 15 Jahre gestiegen. Einen stattlichen Anteil daran dürften die Segnungen der Schulmedizin haben, die momentan heftig unter Druck steht. So können dank ihr heute beispielsweise deutlich mehr Krebsarten geheilt und mehr Herzkrankheiten behandelt werden als noch vor zwei, drei Jahrzehnten.
Eine – nun ja – untergeordnete Rolle bei diesem Fortschritt spielen Globuli, Bachblüten und Klangschalen. Und überhaupt keinen Beitrag leistet das Nein-Plakat zum Covidgesetz am Haus des Nachbarn.