Sprosse für Sprosse lässt Jean-Louis Guillet (53) Lastwagen und Leuchtwesten unter sich zurück. Er klettert die Leiter des Industrieareals in Onnens VD hinauf. Zehn Meter weiter oben: Solarpanels, so weit das Auge reicht.
Guillet war es, der das 500-Seelen-Dorf am Neuenburgersee in ein Solarparadies verwandelt hat. 31’000 Module erzeugen auf diesem Dach Energie für 2300 Schweizer Haushalte. Seine Fotovoltaikanlage ist die grösste des Landes. Wegen ihr beträgt die Solarauslastung in Onnens 61,4 Prozent. Schnitt einer Schweizer Gemeinde: gerade mal 6 Prozent.
Acht Monate Wartefrist
Es blendet, die Sonne drückt durch das Wolkendach. Feine Strahlen rieseln auf die Solarmodule, bewegen die kleinsten Teilchen im Silizium immer schneller. Silizium ist das Halbmetall, aus dem die Module gefertigt sind. Die Teilchen darin, auch Elektronen genannt, werden in eine gemeinsame Richtung geleitet – Energie entsteht. Ganz still und leise, ganz ohne Abgas oder Atommüll.
Guillet zeigt auf einen Mast nahe der Lagerhallen. Die Energie, die hier erzeugt wird, landet direkt im Stromnetz. Dort wird sie von Pronovo, dem Förderprogramm für Solarenergie, gekauft und an Schweizer Haushalte verteilt.
Guillet macht einen Schritt in seine Siliziumwüste. Früher war er Milchtechnologe. Während seiner Masterarbeit entdeckte er das Potenzial der Sonnenenergie, gründete 2008 in Estayaver-le-Lac seine Firma Soleol. Sie installiert, vermietet und verkauft Solarmodule an Private und Unternehmen.
Bevor sich die Energiekrise mit dem Ukraine-Krieg zugespitzt hat, bestand Guillets Team aus 70 Mitarbeitenden. Heute sind es um die hundert. Noch im Januar betrug die Wartezeit bei Soleol einen Monat. Heute sind es acht. «Alle wollen Panels, und am liebsten heute noch», sagt Guillet. Solarenergie boomt.
Viele, die früher von den hohen Anschaffungskosten – Guillet schätzt sie auf zehntausend Franken für ein Haus mit vier Personen, ohne Heizung, inklusive Fördergeld und Steuerabzug – abgeschreckt waren, ändern ihre Meinung gerade: Denn je teurer der Strom, desto schneller amortisiert sich eine eigene Anlage. Heute sind es im Schnitt etwa sechs bis sieben Jahre. Doch das wird immer weniger, sagt Guillet voraus.
Die Schweiz, das Solar-Schlusslicht
Das Umdenken, das gerade stattfindet, sei extrem wichtig, sagt Christina Marchand (53). Sie ist Expertin im Schweizer Strom- und Energiemarkt, doziert an der ZHAW und hat den Stromvergleichsdienst Mynewenergy gegründet. «Damit wir die Energiestrategie 2050 schaffen und aus der Atomenergie aussteigen können, müssen wir bei Solar- und Windenergie vorwärtsmachen.»
Denn trotz des heutigen Solarbooms sei die Schweiz in Europa eines der Schlusslichter. Dafür sieht Marchand drei Gründe. Erstens den hohen Anteil von Wasser- und Atomstrom in der Schweiz: Unser Strom ist vergleichsweise CO2-arm. Der Anreiz, mit erneuerbarer Energie etwas fürs Klima zu tun, sei nicht besonders gross. Zweitens sei Solarstrom wenig gefördert worden.
Und drittens ist der Strom in der Schweiz günstiger als in vielen Nachbarländern. Je günstiger der Strom, desto weniger attraktiv, ihn selbst herzustellen. Doch: Sobald die Strompreise steigen, ist die Mehrheit dabei bei der Solarenergie. «Weil es eine wirklich gute Technologie ist, die langfristig nur Vorteile bringt», ist sich Marchand sicher.
Die Vorteile lassen sich tatsächlich nur schwer leugnen. Die rezyklierbaren Panels, die 20 bis 30 Jahre halten und kaum gewartet werden müssen. Das frei zur Verfügung stehende Sonnenlicht, das auch bei bewölktem Himmel noch rund 40 Prozent des Stroms liefert. Dazu die Fördergelder des Bundes, die bis zu 30 Prozent der Anschaffungskosten abdecken.
Ebenfalls verlockend: Solarenergie ist günstig. Während man den eigenen Strom für 10 bis 15 Rappen pro Kilowattstunde erzeugt, zahlt man beim Stromanbieter derzeit rund 30 Rappen. «Es lohnt sich besonders, wenn Nachbarn gemeinsam in eine Anlage investieren», sagt Marchand.
Nicht nur Süddächer sind geeignet
Geeignet seien Dächer und Fassaden in allen Regionen der Schweiz. «Klar, die Ausrichtung nach Süden ist am besten», weiss Marchand. Doch auch West- und Ostdächer lohnen sich. Der Ertrag verteile sich so besser über den Tag. Auf www.sonnendach.ch, einer Webseite des Bundes, lässt sich das Sonnenpotenzial fürs eigene Zuhause kostenlos berechnen. Mieterinnen empfiehlt Marchand, gemeinsam beim Vermieter anzufragen.
Was die Wasserkraft angehe, sei die Schweiz schon extrem gut aufgestellt. «Wir nutzen bereits fast alle Gewässer, ein paar sollten wir auch noch unberührt lassen», sagt Marchand. Doch auch in der Windenergie müsse dringend investiert werden. «Hier wurde das Potenzial massiv unterschätzt, wie eine neue Studie des Bundes zeigt.»
Im Jahr produziert die Schweiz rund 60 Terawattstunden Strom. Nur 6 Prozent davon ist Solarenergie, dabei liesse sich gut die Hälfte des Stroms mittels Sonnenenergie produzieren. Insgesamt könne 100 Prozent unseres Stroms mit den erneuerbaren Energien Wasser und Solar produziert werden. «Problemlos», betont Marchand.
Ergänzt mit Windkraft wäre man dann bei mehr als 100 Prozent – um die sonnenarmen Winter auszugleichen, in denen ein Drittel weniger Sonnenenergie produziert wird. Ein langfristiges Ziel sei ausserdem, andere nicht erneuerbare Energieträger durch dem klimafreundlichen Strom zu ersetzen.
Gespeichert werden soll der überschüssige Solarstrom in den Pumpspeicherwerken der Wasserwerke. Klingt etwas abstrakt, doch bereits heute wird dort überschüssiger Atomstrom zwischengespeichert.
«Kein Handy, kein Trinkwasser»
Den Sparappell des Bundesrats findet die Energieexpertin gerechtfertigt. «Ohne Strom funktioniert nichts – kein Handy, kein öffentlicher Verkehr, keine Tankstelle, kein Trinkwasser.» Sie wünscht sich mehr Transparenz über den Stromverbrauch. Eine Art Liveticker in den Medien, wie bei den Covid-Fällen, doch über den aktuellen Verbrauch der Gemeinden oder des Kantons. «Das würde sicher zum Sparen anregen», sagt Marchand.
Momentan ist es die Energiekrise, die uns dazu zwingt, uns mit erneuerbaren Energien zu beschäftigen. Marchand hofft, dass mit der Zeit auch wieder der Nachhaltigkeitsgedanke in den Vordergrund rückt.
Der neue Stromkreislauf
Sechs Jahre ist es her, seit sich auf Guillets Dach die ersten Lichtstrahlen in Strom verwandelt haben. Das Dach, das ausser ihm sowieso niemand braucht, hat er gemietet. «Die Inhaber der Lagerhallen kriegen Geld für ihr Dach, ich für meinen nachhaltigen Strom. Alle gewinnen.» Mietkosten: einmalig 2,5 Millionen für 25 Jahre. Dazu die Kosten der Solaranlage: 13,5 Millionen Franken. Nach spätestens 15 Jahren habe sich das abbezahlt, ist sich Guillet sicher.
Die Dächermiete ist zu einem lukrativen Markt geworden. Rund 30 Prozent macht Soleol mit dem sogenannten «Contracting»: Leute, die nicht selber in eine Solaranlage investieren können oder wollen, vermieten Soleol ihr Dach. Die Firma darf darauf eine Solaranlage installieren. Den erzeugten Strom verkauft sie zurück an die Hausbesitzer – deutlich günstiger als der lokale Netzbetreiber. Ein unabhängiger Stromkreislauf entsteht.
Doch nicht überall ist das so einfach, wie es klingt. Diverse Faktoren können dem Traum vom eigenen Sonnenstrom einen Strich durch die Rechnung machen. Mieterinnen und Mieter haben es schwerer, was die niedrige Solarauslastung in den Städten zumindest teilweise erklärt.
So quirlig die Strassen unserer Städte sind – auf ihren Dächern ist nicht viel los. Zürich nutzt lediglich 3,2 Prozent der freien Dachfläche, Bern 3,7 Prozent. In Basel sind es immerhin 5,7 Prozent, Deutschschweizer Spitzenreiter ist Chur GR mit 8,1 Prozent. Viele Häuser stehen unter Denkmalschutz, in der Stadt Bern sind es mehr als die Hälfte. Oft sind Solarpanels dann verboten.
Ein Schloss in Tarnfarben
Seit mehr als 460 Jahren thront das Schloss in Auvernier NE über dem Neuenburgersee. Spitze Türmchen, hohe Tore: Ein wichtiges Kulturerbe der Region, das mit vielen Mitteln bewahrt wird. Dass auf dem Schuppen des Schlosses eigene Energie erzeugt wird, ist fast nicht zu erkennen.
Die Frau, die das ermöglicht hat, heisst Laure-Emmanuelle Perret (46). Die wissenschaftliche Expertin ist Gründerin der Firma LMNT Consultancy und berät Unternehmen rund um die Solarenergie. Am Schweizer Zentrum für Elektronik und Mikrotechnik (CSEM) entwickelte sie jahrelang Bauteile aus Solarpanels.
Oft darf man wegen des Denkmalschutzes keine schwarzen Panels installieren. «Aber eine leicht angepasste Farbe ist kein Problem», sagt Perret. Beim Château d’Auvernier half sie bei der Entwicklung von Solarpanels in der traditionellen Ockerfarbe des Schlossdachs mit. Heute ersetzen die Panels die Ziegel des Schuppens.
Einziger Nachteil: Ein buntes Panel ist teurer und erzeugt nicht gleich viel Strom wie ein schwarzes. «Spezielle Panels sind immer ein Kompromiss», sagt Perret. Aber wenn sie es dadurch Architektinnen und Denkmalschützern ermögliche, die Solarzellen trotzdem zu verwenden, sei das besser als gar keine Panels. «Viele wissen gar nicht, wie weit die Fotovoltaik technisch ist.»
Klobig war gestern
Am Seeufer in Hauterive NE leuchten die Holzpflöcke der historischen Pfahlbauer. Vor rund 5000 Jahren siedelten diese am Neuenburgersee. Es ist eine Kunstinstallation des Archäologieparks Laténium – und eigentlich eine Wand aus bedruckten Solarpanels, die gleichzeitig die Energie für die Beleuchtung der Ausstellung erzeugt. Projekte wie dieses lassen Perret sagen: «Solarzellen müssen schon lange nicht mehr klobig sein.»
Im Einkaufszentrum Marin Centre, eine Viertelstunde von Neuenburg entfernt, wird die gesamte Fassade durch Solarpanels ersetzt. Zusammen mit 4000 Modulen auf dem Dach generiert das Einkaufszentrum so viel Energie, wie sie 200 Einfamilienhäuser im Jahr verbrauchen. Solche renovierten Gebäude mit Solarfassaden gibt es auch in der Deutschschweiz viele.
Dass Kulturerbe und Klimaschutz nicht länger ein Widerspruch sind, sei einer der Schlüssel zur erfolgreichen Energiewende. Mit ihrer Arbeit will Perret zeigen, dass die Möglichkeiten fast unendlich sind. «Die Technologie ist bereit, und wir haben genügend Dächer und Fassaden, um in der Solarenergie einen grossen Schritt zu machen.»
Nächster Stopp: Die Alpen
Vom Industriedach aus blickt Guillet über den Neuenburgersee. Es ist ein guter Standort, hier hat es nur selten Nebel. Noch ist seine Anlage die grösste der Schweiz, aber das könnte sich bald ändern. Gigantische Projekte wie im Walliser Bergdorf Grengiols würden das Ausmass von Guillets Solardach deutlich sprengen: Eine Fläche Natur von 700 Fussballfeldern soll dort mit Solarpanels überzogen werden.
«Dieses Projekt ist einfach nur verrückt», sagt Guillet. Der Schweizer Solarausbau sei ein absolutes Muss, um die Energiewende zu schaffen. «Aber wir müssen unbedingt zuerst all die Dächer nutzen, die wir bereits haben, bevor wir Seen oder Alpen verbauen.»
Sprosse für Sprosse steigt Guillet die Leiter wieder hinab. Er muss zurück ins Büro, hat mehr als genug zu tun. Unten auf dem Parkplatz ist von den Panels nichts mehr zu sehen. Doch ob Guillet auf dem Dach steht oder nicht: Sein Solarparadies erzeugt weiterhin still und leise Energie für 2300 Haushalte.