Angst und Schrecken machten sich breit, als Anfang der Achtzigerjahre Aids ausbrach. Das Virus, das die tödliche Krankheit auslöst, war in aller Munde. Inzwischen hat sich vieles getan. Seit 2002 sinkt die Zahl der HIV-Neu-infektionen nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit. «Der Trend geht seit Jahren nach unten», sagt Andreas Lehner (55), Geschäftsleiter der Aids-Hilfe Schweiz, zu Blick. Während 2021 weltweit 650'000 Menschen an Aids starben, waren es im Jahr 2011 noch 1,7 Millionen. Ähnliches ist bei den Infektionen zu beobachten: Mitte der Achtzigerjahre meldete das BAG schweizweit noch über 3200 HIV-Infektionen, 2021 waren es noch 318.
Nicht nur sinken die Infektionszahlen, auch die Behandlungsmöglichkeiten wurden immer besser. Erste Patienten konnten komplett vom Virus geheilt werden: Dieses Jahr wurde dank einer Knochenmarktransplantation bereits der vierte Patient weltweit vollständig vom Virus befreit. Dies berichteten Aids-Forscher in den USA. Aber auch die aktuellen Medikamente helfen enorm: «Dank der heutigen Behandlungsmöglichkeiten kann man auch mit der Krankheit ein normales Leben führen», so Lehner.
Raphael Zogg (27) aus Holziken AG ist einer, der mit dem Virus lebt. Vor zweieinhalb Jahren hat er die Diagnose HIV-positiv erhalten. «Am Anfang sass der Schock richtig tief», sagt er zu Blick. Nachdem er sich drei Tage lang gefragt habe, weshalb es ausgerechnet ihn treffen musste, blickte er nach vorn. «Ich sagte zu mir: Entweder versinke ich im Selbstmitleid, oder ich akzeptiere es und mache weiter.» Zogg entschied sich für die zweite Option.
«Ich weiss bis heute nicht, ob er sich hat testen lassen»
Abgesehen von der täglichen Einnahme seiner Medikamente lebe er kaum anders als HIV-negative Personen. «Ich kann trotz HIV ein völlig normales Leben führen.» Mittlerweile sei es nur noch eine Tablette täglich, und auch zur Kontrolle müsse er nur noch alle sechs Monate.
Angesteckt habe er sich durch einen sexuellen Kontakt. «Ich und mein Ex-Partner führten damals eine offene Beziehung. Dummerweise war da einer dabei, der HIV hatte», so der Betriebsassistent eines Restaurants in Zug. Die Person, die ihn angesteckt habe, streite es aber ab. Und: «Ich weiss bis heute nicht, ob er sich hat testen lassen.»
Früher 13,5 Millionen Viren pro Milliliter, heute 25
Nur wer sich testen lasse, könne frühzeitig mit einer Therapie beginnen, erklärt Lehner von der Aids-Hilfe. «Dank der Therapie sinkt die Virenlast massiv. Menschen unter erfolgreicher Therapie übertragen das Virus nicht», so der Experte weiter. Wie hoch die Viruslast zu Beginn einer HIV-Infektion sein kann, zeigt Zoggs Beispiel: «Zu Beginn konnte man bei mir pro Milliliter 13,5 Millionen Viren nachweisen. Heute sind es noch 20 bis 25 Viren.»
Da die Viruslast des Aargauers konstant unter der Nachweisgrenze sei, könne er das Virus nicht mehr auf andere übertragen. «Deshalb kann ich ein normales Sexualleben führen.» Dennoch sei es ihm stets wichtig, mögliche Sexualpartner darüber zu informieren, dass er HIV-positiv sei. Die Reaktionen darauf seien aber tendenziell schlecht. «Es hat schon Menschen gegeben, die mich blockiert haben, nachdem sie von meiner Krankheit erfahren hatten.»
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Für Zogg ist klar, woran das liegt: «Für viele ist HIV immer noch das Schreckgespenst, das es in den Achtzigern war. Zudem sind sie nach wie vor dem Irrglauben verfallen, dass HIV-positiv gleich Aids-krank ist.» Diese Unwissenheit sei «tragisch» und auch das, was für Zogg am schlimmsten an der Krankheit sei. «Ich wurde sicher schon tausend Mal für tot erklärt», so der Aargauer. Umso wichtiger sei es, dass man als Betroffener offen mit der Krankheit umgeht.
Auch Elena ist HIV-positiv – und das seit ihrer Kindheit
Das findet auch Elena Jaquenod (33) aus dem Kanton Waadt. Die gebürtige Rumänin ist HIV-positiv, seit sie sich erinnern kann. «Angesteckt habe ich mich bei der Geburt in einem Spital im tiefsten Rumänien», sagt sie zu Blick. Da ihre Mutter krank war und kein Geld hatte, musste sie Jaquenod zur Adoption freigeben. Doch sie hatte Glück im Unglück: «Ein Schweizer Ehepaar wollte mich trotz allem haben.»
Inzwischen hat die Waadtländerin ihre eigene Familie, auch das ist dank moderner Medikamente möglich. Obwohl ihr die HIV-Infektion während ihrer Kindheit auch schwierige Zeiten beschert hat, will Jaquenod ihre Krankheit nicht verleugnen. «Mein Leben widme ich heute meinem Sohn und der Prävention», sagt sie zu Blick Romandie.
Seit 2018 engagiert sie sich in der Aids-Organisation PVA Genf, geht in Schulen, um die Jüngsten der Gesellschaft für das Thema zu sensibilisieren. «Ich möchte das Virus und die Krankheit bekannt machen, um so viel Unwissenheit zu beseitigen und den Betroffenen zu helfen.» Heute führe sie – «bis auf ein paar Details» – ein ganz normales Leben. «HIV hat keine Macht», sagt sie.
Trotz der positiven Entwicklung der Fallzahlen bedeutet laut Katrin Holenstein vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) jede Infektion mit HIV individuelles Leid und eine Belastung der öffentlichen Gesundheit. Dennoch lässt ein Blick in die Forschung weiterhin Hoffnung schöpfen: Wie sich in der Corona-Pandemie herausstellte, könnten die neuartigen mRNA-Impfstoffe auch bei der Immunisierung gegen HIV helfen. Einer neuen Studie zufolge konnte ein mRNA-Vakzin gar bis zu 88 Prozent der HIV-Infektionen bei Affen verhindern.