Die Geschichte der Volksmusik
Erfolgsstory Schwyzerörgeli

Die Schweizer Volksmusik ist eine Erfolgsgeschichte. Anfangs verpönt, setzte sie sich bis heute durch. Auch dank den Jenischen.
Publiziert: 17.09.2023 um 20:28 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2023 um 11:31 Uhr
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Das Eidgenössische Volksmusikfest in Bellinzona steht an.
Foto: Keystone
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Bald machen sie sich wieder bereit, ziehen ihr Sennenkutteli über, schnüren ihre Trachtenröcke, nehmen ihr Schwyzerörgeli auf den Schoss, das Alphorn an ihren Mund oder zupfen an den Saiten des Kontrabasses. Der Gesichtsausdruck ernst. Der Körper steif. Die Konzentration hoch. Das eidgenössische Volksmusikfest in Bellinzona TI steht diese Woche an. 2000 Musikerinnen und Musiker haben sich angemeldet. 60’000 Menschen wollen ihnen zuschauen. So erwartet es der Verband Schweizer Volksmusik (VSV).

Alles hat sie überstanden: Rock ’n’ Roll, Hip-Hop, Techno, sie hätten Schwyzerörgeli und Jodel ganz verdrängen können, doch die Volksmusik hat sich ihren Weg gebahnt, ist Teil der Populärkultur geworden. Mit «Grüezi wohl, Frau Stirnimaa» schaffte sie es 1969 an die Spitze der Schweizer Hitparade. Und 2008 sorgte der Rapper Bligg zusammen mit der Appenzeller Volksmusikgruppe Streichmusik Alder bei «Die grössten Schweizer Hits» im Schweizer Fernsehen für Schlagzeilen. Sie traten sogar im Hallenstadion auf.

Volksmusik ist eine Erfolgsgeschichte. Wie diese begann und was sie prägte – dem gehen wir hier nach. So viel vorab: Sie war einst wichtig für die Schaffung einer Schweizer Identität. Und ohne die Jenischen gäbe es vielleicht heute keinen Ländler.

Der Anfang, allerdings, der war schwer.

Rousseau war ein Geburtshelfer

Dieter Ringli lehrt Musikgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und ist Autor des Buchs «Schweizer Volksmusik». Er sagt: «Volksmusik war verpönt.» Die Aristokraten des 19. Jahrhunderts pflegten ihre eigene Gesellschaftsmusik und hoben sich so von der Musik des «niederen» Stands ab. Vor allem jener der Menschen auf dem Land.

Eine erste kleine Begeisterungswelle formte sich im 18. Jahrhundert. Der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) beflügelte diese. 1767 veröffentlichte er das erste Musiklexikon («Dictionnaire de musique») überhaupt. Beschrieb den «Ranz des vaches», ein Kuhreihen, ein Lied, das auf dem Land die Zeit zum Melken, die Rückkehr in den Stall oder den Alpabzug ankündigt. Laut Rousseau hat diese vertraute Melodie sogar Schweizer Söldner im Ausland zur Fahnenflucht bewegt, weil sie in ihnen das «delirium melancholicum» weckte, das Heimweh. Das passte zum Zeitgeist, der folgte: die Romantik, die die Natur und das Ländliche überhöht. Ihre Anhänger reisten aus den Nachbarländern in die Schweiz, wollten den Ursprüngen des «Ranz des vaches» auf den Grund gehen.

Doch richtig breit in Mode kam die Volksmusik noch ein Weilchen lang nicht. Das änderte sich erst im 20. Jahrhundert. Mit dem Boom der Tanzmusik. Den Boden dafür legte ein ganz bestimmtes Instrument: das Akkordeon. In der Schweiz: Schwyzerörgeli.

1829 erfand der österreichische Klavier- und Orgelbauer Cyrill Demian ein kastenförmiges Gerät: ein Blasebalg zwischen zwei festen Platten, der einen Luftstrom erzeugt und metallene Stimmzungen zum Schwingen und Klingen bringt. Eine geniale Erfindung. Im Freien übertönte sie das Tosen des Winds und bei Tanzanlässen die Tritte auf den Holzböden und das Juchzen der Bierseeligen. Das Akkordeon ersetzte nach und nach Geigen und Trompeten. Veränderte damit die Spielpraxis. Dieter Ringli sagt: «Die Tanzmusik wurde schneller und virtuoser.»

Mit Folgen für die Volksmusik: Sie breitete sich aus. Bis in die Stadt.

Vom Land in die Stadt und dann in die ganze Schweiz

Auch dank dieses Mannes: Stocker Sepp, Klarinettist und Tanzveranstalter. Ab den 1920er-Jahren holte er Volksmusikformationen aus den Landkantonen in die hippen Tanzlokale in Zürich. Die Limmatstadt entwickelte sich zum Zentrum der Schweizer Volksmusikszene. Traditionelle Melodien mischten sich dort mit neuen Einflüssen wie Jazz. Der «Ländler-Fox» entstand.

All das schuf die Basis dafür, was danach folgte: der Aufstieg der Volksmusik zum nationalen Kulturgut. Das Land brauchte dieses. Es war Krieg. Dieter Ringli sagt: «Der Ländler trug als Teil der geistigen Landesverteidigung viel zur Formung einer Schweizer Identität bei.»

Ihr Vehikel: die Schweizer Landesausstellung von 1939. Stocker Sepp war deren musikalischer Leiter, sorgte dafür, dass die Besucherinnen und Besucher im Landidörfli nur volksmusikalische Tanzmusik zu hören bekamen. Und prägte den Begriff «Ländler», der sich durchsetzte. All das war ein Wendepunkt. Noch nie zuvor waren so viele Menschen mit der Musik in Kontakt gekommen. Ein Hype trat los. Auch dank des Radios. Und verebbte erst, als in den 1950ern die rockige Gitarrenmusik aufkam.

Die «Fränzli-» und «Sepplimusik» der Jenischen

Einen wichtigen Aspekt der Volksmusikgeschichte spart die Landi allerdings aus: den Einfluss der Jenischen. Der war gross. Das zeigt der Musiker und Musikhistoriker Jachen Erni in seinem Buch «Las melodias dals randulins». Er sagt: «Wegen der Stigmatisierung der Jenischen hat man ihre Bedeutung für die Schweizer Volksmusik lange nicht anerkannt.»

Erni stammt aus dem Engadin. In Graubünden gaben Jenische lange den Ton an. Bis zur Landi hiess die Bündner Tanzmusik generell nur «Sepplimusik» und «Fränzlimusik». So wie ihre wichtigsten Vertreter, zwei Jenische: der Klarinettist Josef Metzger (1817–1876) und der Geiger Franz-Josef Waser (1858–1895). In Nordbünden waren die «Sepplis» daheim, im Engadin die «Fränzlis».

Das Buch «Zigeuner» von Isabella Huser stützt Ernis These. Die Schriftstellerin zeigt: Ihre Grosseltern flohen in den 1920er-Jahren vor der Pro Juventute, die jenische Kinder massenhaft in Heimen versorgte. Ihr Glück: Als Musikerfamilie konnte sie reisend überleben. Husers Vater gründete 1939 die populäre Ländlerkapelle Huserbuebe aus dem Zürcher Weinland.

Heute ist der Einfluss der Jenischen in der Fachwelt unbestritten. Genauso wie der Fakt, dass sich die Volksmusik gewandelt hat. Es noch immer tut. Auch weil sie gerade wieder populärer wird. Der Musikethnologe Dieter Ringli sagt: «Der Volksmusik geht es sehr gut.» Das Schwyzerörgeli boome. Auf dem Land fehlt es an Lehrpersonen, weil so viele lernen wollen, wie man es spielt. Und die Örgeli-Bauer hätten lange Wartelisten. Vielleicht kommt da noch mehr. Die Sehnsucht der Menschen nach dem Lokalen über all dem Globalen ist jedenfalls ungebrochen.

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