Bald reihen sie sich wieder auf, die Männer und Frauen in Kutteli und Tracht, die Hände in den Hosen- und Rocktaschen. Stimmen ihre Lieder an, wechseln lückenlos zwischen Brust- und Kopfstimme, zwischen tief und hoch und erzeugen dabei einen ganz eigenen Klang – den Jodelschlag. Das Eidgenössische Jodlerfest in Zug steht an. 11'000 Menschen zeigten zuletzt vor sechs Jahren in Brig-Glis VS ihr Können, rund 150'000 schauten ihnen dabei zu. Eine Riesenparty.
Jodeln ist beliebt. Allein der Eidgenössische Jodlerverband zählt 20'000 Mitglieder – seit Jahren. Und Jodellieder hören längst nicht nur alte Männer mit Rössli-Stumpen zwischen den Zähnen. Das Liedgut gehört zur Populärkultur. 2008 schafften es Oesch's die Dritten mit ihrem «Ku-Ku-Jodel» in der SRF-Sendung «Die grössten Schweizer Hits» auf den ersten Platz. Der Zürcher Rapper Bligg (46) bettete in sein Stück «Musigg i dä Schwiiz» Jodelpassagen ein. Und der Berner Rocker Gölä (55) nahm mit Jodelchören seine Mundarthits neu auf.
Wieder die Österreicher!
Jodeln gehört zur DNA der Schweiz – ganz klar, oder? Falsch, sagt Dieter Ringli. Er lehrt Musikgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHDK) und klärt auf: «Der Jodel ist keine Schweizer Erfindung.» Er habe sich bei uns erst im 20. Jahrhundert ausgebreitet. Zuvor kamen uns: die Tiroler. Ausgerechnet die Österreicher! Die ewigen Konkurrenten.
Das Buch «Tirolerei in der Schweiz» zeigt: Während der Befreiungskriege (1796–1814) gegen Napoleon (1769–1821) benutzten es die Tiroler als akustisches Symbol für den Widerstand. Später trugen es lokale Sängergruppen zuerst nach Wien, in die Volksbühnenszene hinein, danach in die Welt hinaus. Auch in der Schweiz. Und das wirkte bedrohlich. Im 19. Jahrhundert klagte man hierzulande über die immer mehr um sich greifende «Tirolerei». In einzelnen Bergregionen gab es zwar eigene Ausprägungen des registerwechselnden Singens, heute: «Entlebucher Jutz», «Berner Naturjutz», «Juiz» in Ob- und Nidwalden, «Zäuerli» und «Ruggusserli» in Appenzell und «Johlen» im Toggenburg. Doch nichts mit überregionaler Bekanntheit.
Das änderte eine Initiative 1910: die Gründung des Eidgenössischen Jodlerverbands. Er pushte den Jodel. Erklärte ihn zur «urwüchsigen Schweizer Eigenart», verbreitete und vermarktete ihn fortan. In der offiziellen Gründungseinladung, die die «Schweiz am Wochenende» einmal aufstöberte, steht weshalb: «Die ächten, urchigen Jodler von Berg und Tal müssen zusammenhalten und sich in jeder Beziehung fernhalten von der Variétésingerei», also der «fremdfötzeligen Tirolerei».
Geistige Landesverteidigung
Der Auszug zeigt: Der Jodlerverband, der Jodel – sie sind Ausdruck der nationalen Identität der Schweiz. Genauso wie das erste Eidgenössische Jodlerfest von 1924 in Basel. Hinzu kam während des Zweiten Weltkriegs die Geistige Landesverteidigung. Der EJV ging in die Offensive, gab 1943 die erste Anleitung zum Jodeln des Komponisten Robert Fellmann (1885–1951) heraus. Sie diente vor allem den Vereinen im Mittelland fortan als Grundlage. In der Nachkriegszeit brach der Trend ein, die 68er-Generation und jene, die auf sie folgten, fanden jodeln reaktionär.
Diese Zeiten sind vorbei. Musikexperte Ringli sagt: «Der Jodel erlebt ein Revival.» Die breite Gesellschaft hat ihn für sich entdeckt. Im Kiental erholen sich Gestresste bei Qigong und Jodeln – «als eine der reinsten Ausdrucksformen von Lebensfreude» – vom Alltag. Und in der Stadt sind Jodelkurse jeweils sofort ausgebucht, wie Ringli sagt. Die Städterinnen und Städter interessierten sich vor allem für den Naturjutz – Jodel ohne Text. Ein Zeichen für die Zukunft, findet er: «Der Jodel wird uns wohl erhalten bleiben.»
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