Die andere Schule
Hier bestimmen Kinder, was gelehrt wird

Privatschulen sind gefragt. Davon profitieren Hanna und Nils Landolt. In ihrer Schule in Mollis GL bestimmen die Kinder, was gelehrt wird. Das SonntagsBlick Magazin war vor einem Jahr schon mal zu Besuch. Und will nun wissen: Wie läuft es mittlerweile?
Publiziert: 14.08.2022 um 16:03 Uhr
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Hanna und Nils Landolt mit Tochter Juna (2).
Foto: Philippe Rossier
Rebecca Wyss (Text) und Philippe Rossier (Fotos)

Morgens um halb 10 Uhr die Krise. Wegen dieser einen Frage: Wer spielt den «Star Wars»-Helden Darth Vader? Die drei Buben stehen im Garderobenraum. Streiten. Und das klingt so:

«Du kannst ein Sturmtruppler sein.»
«Ich will kein Sturmtruppler sein.»
«Oder Captain Phasma, die ist der Captain von drei Millionen Sturmtrupplern.»
«Ich will aber nicht!»

Eine Stunde zuvor sind die Journalistin und der Fotograf in der alten Spinnerei in Mollis GL eingetroffen. Beim Lernhaus Sole – der Schule von 20 Kindern zwischen vier und elf Jahren. Drei davon wollen zum Abschluss des Besuchs ein kleines Theaterstück aufführen: eine Schwertkampfszene von Star Wars. Star Wars ist bei den Kindern gerade das Thema.

Nils (33) und Hanna Landolt (30) leiten die Schule. Der Bub, der kein Sturmtruppler spielen will, ist ihr Sohn Elia (8), das älteste ihrer vier Kinder. Irgendwann schaltet sich Nils Landolt ein, steuert die Diskussion: «Kommt, sucht gemeinsam eine Lösung: Welche Rolle könnte er sonst noch spielen, die für alle stimmt?» Die Kinder bringen Ideen. Am Ende des Morgens haben sie das Problem gelöst.

Im Fokus: Die Motivation der Kinder

Selbst rausfinden. Selbst lernen. Selbst. Das ist das Motto dieser Privatschule. Blick hatte kurz vor der Eröffnung schon mal reingeschaut. Damals waren die Räume noch menschenleer. Wie läuft es nun – ein Jahr später?

Hanna Landolt sagt: «Es ist ein Lernprozess, und unsere Lernkurve ist steil.» Für ihre Schule gibt es kein Lehrbuch. Sie bauen von Grund auf alles neu auf. Und das sieht so aus: Lehrpersonen heissen hier Begleitpersonen. Tests und Noten gibt es keine. Die Schule macht um acht Uhr auf, ab da trudeln die Schülerinnen und Schüler ein. Jeder Tag sieht anders aus. Wie, das hängt davon ab, was die einzelnen Kinder machen wollen. Nils Landolt sagt: «Im Zentrum steht das, was die Kinder gerade interessiert, und die sieben Begleitpersonen schauen, wie sie sie dabei unterstützen können.»

Trend in Wirtschaftsmetropolen

Privatschulen sind gefragt. Über die ganze Schweiz gesehen ist der Anteil von Privatschülerinnen und -schülern über die letzten zehn Jahre zwar gleich geblieben: zwischen fünf und sechs Prozent. Doch die Unterschiede sind gross: In Wirtschafts- und Pharma-Metropolen hat die Nachfrage danach zugenommen. Seit der Jahrtausendwende ist im Kanton Zürich der Anteil von Schülern, die an einer rein privat finanzierten Schule sind, von 4,8 auf 6,4 Prozent gestiegen. In Zug hat sich der Anteil aller Privatschüler von 3,5 auf 10 Prozent fast verdreifacht, und in Basel stieg dieser seit 2010 von 8,7 Prozent auf 10 Prozent im Jahr 2019.

Die Treiber des Trends: die Expats. Stefan Wolter, Bildungsforscher und Professor an der Universität Bern, sagt: «Viele internationale Schulen entstanden während der Nullerjahre.» Mit der Personenfreizügigkeit. Die Unternehmen machten Druck, weil die ausländischen Spezialisten nur dann temporär in die Schweiz kamen, wenn sie ihre Kinder in eine Privatschule schicken konnten. Jene unterrichten nach einem internationalen Lehrplan, was für die Expat-Eltern das Weiterziehen nach einigen Jahren einfacher macht. Zur zweiten Gruppe der Privatschulen gehören jene, die aus der Reformpädagogik-Bewegung Mitte des letzten Jahrhunderts hervorgegangen sind: Rudolf-Steiner- und Montessori-Schulen. Und neuere – wie das Lernhaus Sole in Mollis.

Privatschule als Lernprozess

Die Räume sind in Lernnischen aufgeteilt, abgetrennt durch Kasten. Beim Eingang steht eine Werkbank mit Bohrer und Sägen. Am Fenster im grossen Hauptraum spielen zwei Mädchen Ligretto, in den anderen Nischen finden sich ein Elektro-Schlagzeug, eine Nähmaschine, und ganz in der Nähe trocknet ein frisch gemalter Darth Vader auf einem A3-Papier – die Malecke. Auch das ist Teil des Lernprozesses: die Raumgestaltung. Nils Landolt sagt: «Anfangs konnten sich die Kinder nicht gut konzentrieren, weil wir keine Nischen hatten.»

Er sitzt gerade mit einem Neunjährigen am Computer in Nebenraum, dem Makerspace – eine Art digitale Werkstatt. Sie sind in einer Lernsituation. Der Junge will ein Laserschwert basteln. Landolt sagt: «Ich weiss selbst nicht, wie es geht, wir finden das zusammen heraus.»

Im Netz finden sie Pläne von Laserschwert-Teilen, mit denen sie diese mit dem 3D-Drucker herstellen können. Was fehlt: das Leuchtelement für die Schwertklinge. Eine batteriebetriebene LED-Lichter-Kette. Doch die hat eine ganz bestimmte elektrische Spannung – deshalb beugen sich die beiden gerade über ein Buch zum Thema. Landolt erklärt dem Jungen den Stoff.

Nils Landolt sagt: «Bei uns erleben Kinder, dass alles positiv ist, was sie lernen.» Motivation. Darum gehts. «Viele Kinder bleiben an der Volksschule auf der Strecke», fährt er fort. Sie seien unter- oder überfordert. Landolt war acht Jahre lang Primarlehrer.

Die Reformpädagogik entstand als Gegenmodell zu den durch Zucht und Ordnung geprägten Schulen. Das Kind sollte sich frei und individuell, ohne Noten und Druck entfalten können. Bildungsforscher Stefan Wolter sagt, die Ansicht, dass die Lernbedürfnisse von Kind zu Kind verschieden seien und man mit Frontalunterricht nicht weiterkomme, sei auch in der heutigen Volksschule angekommen. Doch: «Mit den Ressourcen der Volksschule hat die Individualisierung ihre Grenzen.» Davon profitierten Schulen wie jene in Mollis.

Bald startet die Vorführung, die Jungs bringen sich draussen hinter dem Haus mit ihren Schwertern in Stellung. Aus einer portablen Box dröhnt dumpf der Star-Wars-Soundtrack. Der Streit von vorhin ist gelöst: Alle, die wollen, dürfen die Klingen kreuzen. Egal, als was.

Die Frage der Frustrationstoleranz

In einem Punkt ist der Forscher Stefan Wolter skeptisch. Für Schülerinnen und Schüler sei es wichtig, die Erfahrung zu machen, dass man nicht nur durch Plausch lernt. Dass es Verzicht brauche. Eine Frustrationstoleranz. Er sagt: «Im Leben fährt man besser, wenn man auch das machen kann, was man nicht gerne tut.»

Was meinen die Landolts dazu?

Hanna Landolt sagt: «Frustrationstoleranz gehört zum Leben dazu und ist ein natürlicher Teil von Lernprozessen.» Doch sie frage sich: Muss man Menschen eine Kindheit lang gezielt Frustrationen aussetzen, damit sie Frustrationstoleranz erlernen?

Das sehen auch andere so: Auch im zweiten Jahr sind alle Schulplätze im Lernhaus Sole vergeben.

Mehr Informationen zur Schule in Mollis GL auf: Lernhaussole.ch

Alternative Bildung

Nils Landolt hat die Stiftung Schulwandel.ch gegründet. Ihr Ziel: Die Vielfalt innerhalb der Bildungslandschaft Schweiz fördern. Interessierte, Leiter von Lernorten, Pädagogen und Eltern können sich auf der Plattform vernetzen, ihre alternativen Bildungsangebote präsentieren.

Nils Landolt hat die Stiftung Schulwandel.ch gegründet. Ihr Ziel: Die Vielfalt innerhalb der Bildungslandschaft Schweiz fördern. Interessierte, Leiter von Lernorten, Pädagogen und Eltern können sich auf der Plattform vernetzen, ihre alternativen Bildungsangebote präsentieren.


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