Es war ein Ausdruck purer Verzweiflung: Die Mitglieder der wissenschaftlichen Corona-Taskforce, die den Bundesrat berät, wandten sich am Freitagabend nicht etwa an die Landesregierung. Sie warnten die Bevölkerung via Social Media direkt: «Bitte, liebe Leute, meidet Bars, Clubs und Discos!»
Der Leiter der Taskforce, Epidemiologe Matthias Egger (63), hatte die Lockerung bereits vor zwei Wochen öffentlich als zu schnell bezeichnet. Es sei unklar, wie gut das Contact Tracing etabliert sei, sagte der oberste externe Covid-Berater des Bundes. Und es fehle an einem funktionierenden Überwachungssystem.
Der Bundesrat schlug die Warnungen in den Wind – und diese Woche waren die täglichen Neuansteckungen wieder dreistellig, am Samstag lagen sie mit 97 Fällen knapp darunter.
«Wir bedauern, dass die Lockerungsstrategie nicht im Detail mit der wissenschaftlichen Taskforce besprochen wurde», so Egger zu SonntagsBlick. Schliesslich habe man dazu Konzepte ausgearbeitet und dem Bund zur Verfügung gestellt.
Ähnlich kritisch äussert sich die Virologin Isabella Eckerle (39), Leiterin des Zentrums für Virenerkrankungen am Unispital Genf: «Die Empfehlungen der Wissenschaft sind kaum in die Entscheide des Bundes mit eingeflossen.»
Und so ist die Schweiz auf bestem Weg, den Lockdown-Effekt zu verspielen. Ein Lockdown, der die Wirtschaft laut Schätzungen rund 30 Milliarden Franken kostete, Schulschliessungen zur Folge hatte, das soziale Leben lahmlegte – und Menschen mutterseelenalleine in den Spitälern sterben liess.
GPK untersucht Management des Bundes
Symbolisch für die neue Unbekümmertheit steht der Abgang von «Mr. Corona» Daniel Koch (65) Ende Mai. «Er geht in Pension, sozusagen ‹mission accomplished›, und springt noch dazu mit Anzug in die Aare. Kann man ein klareres Symbol davon haben, dass jetzt die Zeit gekommen ist, sich gehen zu lassen?», fragt der Psychologieprofessor Adrian Bangerter (50) von der Universität Neuenburg. Jetzt ist klar: Koch war cool, ignorierte aber dringende Warnungen von Epidemiologen.
Mit Folgen: Die Geschäftsprüfungskommissionen von National- und Ständerat untersuchen derzeit, wie Bundesrat und Verwaltung die Corona-Krise gemanagt haben. Vorgeladen wurde auch Daniel Koch. Ausgang offen.
Mit der gleichen Nachlässigkeit – und mit grosser Verspätung – reagierte der Bundesrat diese Woche auf die steigenden Infektionszahlen. Im Hinblick auf die Clubs, wo es zu besonders vielen Neuansteckungen gekommen ist, unternimmt er gar nichts. Und erst ab morgen Montag gilt eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr. Wer sich nicht daran hält, kann gebüsst werden. In den umliegenden Ländern gilt die Maskenpflicht seit Monaten.
Dem Maskenentscheid vom Mittwoch ging ein Kompetenzgerangel zwischen Bund und Kantonen voraus. Zwei Tage zuvor hatte Bundesrat Alain Berset (48, SP) beim Treffen mit der Gesundheitsdirektorenkonferenz noch gesagt, dass die Verantwortung für ein Maskenobligatorium bei den Kantonen liege. Am Mittwoch aber gelangte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (60, SP) zu der Einsicht: «Mit der Maske schützen wir uns selber und unsere Mitmenschen.»
Kam die Wende zu spät?
Für den Basler Epidemiologen Marcel Tanner (67), der in der Taskforce des Bundes die Expertengruppe für öffentliche Gesundheit leitet, kam diese Wende zu spät: «Wir wussten immer schon, dass der öffentliche Verkehr ein Hochrisikogebiet ist. Dadurch, dass der Bundesrat die Maskenpflicht nicht früher eingeführt hat, hat er zusätzliche Ansteckungen in Kauf genommen.» Tanner hätte es begrüsst, wenn Masken in Bahnen und Bussen nicht erst ab Montag Pflicht geworden wären. «So verlieren wir wieder ein ganzes Wochenende!»
Tatsächlich sorgten diese Woche aber nicht hohe Ansteckungsraten in öffentlichen Verkehrsmitteln für Schlagzeilen, sondern im Ausgang. Heute vor zwei Wochen besuchte ein Mann den Zürcher Flamingo Club und infizierte gleich mehrere Personen mit dem Virus. Mehr als 300 mussten daraufhin in Quarantäne, die Clubs in der Partymeile auf Weisung des Kantons ihre Massnahmen zum Contact Tracing nachbessern.
Nun sind die Papierlisten verschwunden, man setzt auf elektronische Lösungen. Im Zürcher «Hive» müssen sich Nachtschwärmer per Handynummer registrieren und erhalten ein SMS mit persönlichem Link. Nur wer den QR-Code hinter dem Link vorweisen kann, darf den Club betreten. Zudem gilt ID-Pflicht.
Das Tempo, mit dem die Landesregierung den Lockdown lockerte, verwundert sogar Alex Bücheli, Sprecher der Bar- und Clubkommission der Stadt Zürich. Man habe dem Bundesrat ein sehr viel sanfteres Konzept vorgelegt. «In einem ersten Schritt wollten wir lediglich Veranstaltungen unter freiem Himmel durchführen, ehe wir überhaupt an Partys in geschlossenen Räumen dachten.»
Chaos bei den Kantonen bleibt
Auch die Genfer Virologin Eckerle hat dieser Entscheid überrascht. Sie sagt: «Die Schweiz ist auf keinem guten Weg.» Deshalb sei klar: Die Clubs müssten wieder geschlossen werden. Die aktuellen Auflagen erleichtern zwar das Contact Tracing und damit – zumindest in der Theorie – eine ungehinderte Weiterverbreitung des Virus. Doch «das primäre Ziel muss es sein, Fälle effektiv zu vermeiden», betont Eckerle.
Auch grosse Veranstaltungen mit Hunderten von Teilnehmern sieht die Virologin kritisch. Je mehr Gäste einen Anlass besuchten, desto schwieriger sei die Nachverfolgung. «Ab einer gewissen Anzahl ist die Nachverfolgung rein logistisch gar nicht mehr möglich», sagt Eckerle, «zumal wir ja immer erst mit Verzögerung von einer Infektion erfahren». Die Virologin hält deshalb auch bei den Grossveranstaltungen ein Verbot für den einzigen richtigen Weg.
Allerdings liegt die Kompetenz auch dafür bei den Kantonen. Das Tessin hat Versammlungen von mehr als 30 Personen erneut verboten. Der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen: Seit Aufhebung der ausserordentlichen Lage am 19. Juni, als der Bund den Kantonen die Verantwortung zur Bewältigung der Krise übertrug, herrscht Chaos.
Innenminister Berset sagt, es obliege den Kantonen, entsprechende Massnahmen zu ergreifen; die aber zeigen sich überfordert und betonen, die Gemeinden stünden in der Pflicht; jene wiederum machen Druck auf die Betreiber von Restaurants, Bars und Clubs.
«Mit der Verlagerung der Kompetenzen auf die Kantone wurde die Lage komplizierter und heterogener», sagt Daniel Speiser (65), Leiter der Expertengruppe Immunologie der Covid-19-Taskforce des Bundes. Er spricht von einer «unbefriedigenden Situation».
Jetzt fehlt nationaler Krisenstab
Tatsächlich fehlt derzeit eine standardisierte Datenerfassung auf Bundesebene, was die Lage komplett unübersichtlich macht. «Wir wissen nicht, wer getestet wurde und warum», sagt Taskforce-Leiter Egger. «Ebenso wenig wissen wir, wie viele Personen wo in Quarantäne sind und wie viele neue Fälle aufgrund des Contact Tracing entdeckt wurden.» Solange diese Daten nicht in Echtzeit auf nationaler Ebene zur Verfügung stünden, könne man nicht adäquat reagieren.
Mit der Rückkehr von der ausserordentlichen in die besondere Lage wurde auch der nationale Krisenstab aufgelöst – so fehlt just zum Beginn der zweiten Welle eine Plattform, die den Austausch zwischen Bund, Kantonen und Wissenschaft ermöglicht. Egger hofft deshalb, dass ein neues Gremium «sehr bald» gegründet werde.
Umso mehr, als sich diese Woche zeigte, dass sogar grosse Kantone wie Zürich schon jetzt mit dem Contact Tracing überfordert sind. Und bald könnte es noch schlimmer kommen: «Die Zahlen deuten in die Richtung, dass wir nächste Woche vielleicht bereits 200 Fälle haben und die Woche darauf 400», warnt Egger.
Remdesivir, ursprünglich gegen Ebola entwickelt, gilt heute als eines der wenigen Medikamente, die bei Covid-19-Patienten wirken. Die USA sicherten sich fast die gesamte Produktionsmenge der kommenden Monate. Andere Länder gehen leer aus. Es gebe jedoch keinen Grund zur Panik: Man sei mit dem Hersteller im Gespräch, erklärt das BAG. Denkbar ist, dass die Schweiz das Medikament ohne Erlaubnis von Gilead Sciences «nachbaut». Derzeit ist dies noch keine Option, auch weil es einen starken Eingriff in geltendes Wirtschaftsrecht bedeuten würde. Mehr Sorgen macht der Wissenschaft eine globale Mutation des Coronavirus. Die gegenwärtig vorherrschende Variante ist drei- bis neunmal infektiöser als das ursprüngliche Virus, meldete das Fachmagazin «Cell» diese Woche. Unklar ist, ob die Mutation auch schwerere Erkrankungen auslöst.
Remdesivir, ursprünglich gegen Ebola entwickelt, gilt heute als eines der wenigen Medikamente, die bei Covid-19-Patienten wirken. Die USA sicherten sich fast die gesamte Produktionsmenge der kommenden Monate. Andere Länder gehen leer aus. Es gebe jedoch keinen Grund zur Panik: Man sei mit dem Hersteller im Gespräch, erklärt das BAG. Denkbar ist, dass die Schweiz das Medikament ohne Erlaubnis von Gilead Sciences «nachbaut». Derzeit ist dies noch keine Option, auch weil es einen starken Eingriff in geltendes Wirtschaftsrecht bedeuten würde. Mehr Sorgen macht der Wissenschaft eine globale Mutation des Coronavirus. Die gegenwärtig vorherrschende Variante ist drei- bis neunmal infektiöser als das ursprüngliche Virus, meldete das Fachmagazin «Cell» diese Woche. Unklar ist, ob die Mutation auch schwerere Erkrankungen auslöst.
Im März stellte sich dieses Problem schon einmal. Die Zahlen explodierten, der Bundesrat musste die Notbremse ziehen. Eine Nachverfolgung der Infektionsketten war nicht mehr möglich. Diese Lage droht nun wieder. Dokumente aus dem Kanton Freiburg belegen: Bereits bei etwa 30 Neuansteckungen pro Tag stösst dort das Contact Tracing an seine Grenzen, die Rückverfolgung ist nur noch «eingeschränkt» möglich.
Dass die Zürcher Gesundheitsdirektion personell höchstens 50 Neuansteckungen pro Tag zurückverfolgen kann, macht sogar Regierungsrätin Natalie Rickli (43, SVP) nervös. Auch St. Gallen sei bereits an einem «kritischen Punkt», wie der Gesundheitsdirektor Bruno Damann (63, CVP) besorgt vermeldete – dabei bewegen sich die täglichen Neuansteckungen erst im tiefen zweistelligen Bereich.
Akut wird es bei einer lokalen Häufung: «Ein Superspreader kann immer zu kurzfristigen Engpässen beim Personal führen», sagt der stellvertretende Schwyzer Kantonsarzt Arthur Vogt (68). Der Zentralschweizer Kanton ist von einem Notstand beim Contact Tracing bisher verschont geblieben, in Graubünden jedoch habe man die Folgen der «Belgrader Party» nur noch mit Mühe stemmen können.
Eine Gruppe junger Schweizer hatte das Virus Mitte Juni nach einem Partyurlaub in Serbiens Hauptstadt ins Bündnerland eingeschleppt. Resultat: Mehr als 50 Kontaktpersonen mussten in Quarantäne gehen.
Die Bündner Kantonsärztin Marina Jamnicki (49) spricht von einem «erheblichen Mehraufwand». Je mehr Kontakte die übermütigen Partygänger hatten, desto mehr Arbeit fiel für die Contact Tracer an.
Es fehlt an Personal
In dieser fragilen Lage erstaunt es daher kaum, dass viele Kantone ihre Personalreserven so kurzfristig wie massiv aufstocken müssen. Der Kanton Bern sieht im Extremfall bis zu 60 Contact Tracer vor – momentan sind 15 im Einsatz. In anderen Kantonen könnten erneut Zivilschützer, Zivildienstleistende, Ärzte oder gar Medizinstudenten beigezogen werden.
Nur: Contact Tracing allein reicht nicht. Kapazitätsgrenzen sind oft schneller erreicht als erwartet. Gerade, wenn – wie jetzt in der Ferienzeit – auch Rückkehrer aus Risikoländern in Quarantäne gehen müssen.
Die Kantone Jura und Waadt haben daher bereits eine Maskenpflicht für Geschäfte beschlossen. Als Ultima Ratio benennt der Kanton Glarus sogar bisher Unausgesprochenes: Im sogenannten «Rebound-Konzept» ist ein regionaler Lockdown vorgesehen – für den Fall, dass die Situation wieder ausser Kontrolle gerät.