Grund zum Feiern, nachdem seine SVP-Partei ihr wichtigstes Ziel erreichte, habe es für ihn nicht gegeben, sagt Bundespräsident Guy Parmelin (61) im Gespräch mit der «NZZ am Sonntag». Für ihn sei es ein «nüchterner Entscheid» gewesen. «Ich empfand keine Emotionen». Im Bundesrat gehe es «nicht um Parteipolitik. Es war ein wichtiger Entscheid für das Land.»
Die Gesamtregierung habe festgestellt, dass der auf dem Tisch liegende Vertrag «in dieser Form für uns nicht gut und auch nicht mehrheitsfähig ist». Die Perspektive, in Verhandlungen zu einer besseren Lösung zu kommen, habe es nicht gegeben.
Parmelin spricht von einer «zu hohen Hürde» des ehrgeizigen Ziels, den Vertrag mit der EU abzuschliessen: «Wir wussten schon am Anfang, dass der Lohnschutz und die Unionsbürgerrichtlinie zu den schwierigsten Themen zählen würden.»
Kohäsionsmilliarde als Zeichen des guten Willens
Ohne Erfolg habe man auf allen Ebenen versucht, Lösungen zu finden. Die Schweiz habe mit der dynamischen Rechtsübernahme und der Rolle des Europäischen Gerichtshofs bereits «riesige Konzessionen gemacht». Trotzdem sei die EU nicht mehr entgegengekommen: «So ist der Vertrag gescheitert.»
Die Schweiz müsse jetzt «einen anderen Weg finden». Neu brauche es einen «regelmässigen Dialog auf technischer und politischer Stufe». Das, obschon die EU klipp und klar sagt, dass sie ohne Rahmenabkommen kein Interesse hat, die bestehenden Verträge zu erneuern.
Parmelin sieht dabei auch seitens der EU den Willen, «nun zu analysieren, wie es weitergeht». Das Ende der Verhandlungen sei «nicht das Ende der Beziehungen». Auch als Zeichen, dass die Schweiz ein zuverlässiger Partner ist, habe der Bundesrat nun seine Absicht beteuert, die Kohäsionsmilliarde auszuzahlen.
«EU würde sich selbst schaden»
Parmelin ist überzeugt, dass der Bundesrat damit nicht leichtfertig all seine Trümpfe ausspiele. Nadelstiche seitens der EU, zum Beispiel bei Forschung, Stromhandel oder Medizinaltechnik, hält der Bundespräsident für kontraproduktiv: «Die Forschung als Geisel zu nehmen, dient niemandem.» Damit werde bloss der Forschungsstandort Europa gegenüber Asien und den USA geschwächt.
«Solche Spielchen», führt Parmelin fort, «passen nicht zu unserer Politik. Nadelstiche bringen der Bevölkerung gar nichts, weder bei uns noch in der EU. Nadelstiche macht man nicht, wenn man zu einem gemeinsamen Resultat kommen will und eine Win-Win-Situation durch ein Abkommen sucht.»
Der Bundesrat wolle «keinen Konflikt. Deshalb bietet er der EU einen politischen Dialog an. Wir müssen pragmatisch bleiben und alle Chancen packen, die sich uns bieten. Die EU würde sich mit einer Torpedierung der Handelsbeziehungen zu einem ihrer wichtigsten Handelspartner selber schaden».
«Müssen für stabile Löhne sorgen»
Befürchtungen, dass Firmen wegen der absehbaren Unsicherheit neue Jobs eher im EU-Raum schaffen anstatt in der Schweiz, weist Parmelin zurück. Die Schweiz verfüge über politische Stabilität, gute Fachkräfte und beste Rahmenbedingungen in zahlreichen Bereichen: «Wir müssen diese guten Rahmenbedingungen pflegen und verbessern», um attraktiv zu bleiben.
Dazu würden nicht weitere Liberalisierungen gehören. In der Schweiz sei das Leben teuer, so Parmelin. «Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Löhne stabil sind. Sonst bekommen wir ein soziales Problem.»
Gerade der Krisengipfel zwischen US-Präsident Joe Biden (78) und dem russischen Staatschef Wladimir Putin (68) Mitte Juni in Genf zeige eine der vielen Stärken der Schweiz auf: «Unsere Neutralität wird geschätzt». Parmelin spricht von einem «guten Signal an die internationale Gemeinschaft». Die ganze Welt profitiere davon, wenn die beiden Grossmächte ihre Spannungen abbauen. (kes)