Die Neutralität muss sich laut Bundespräsident Alain Berset (50) einen «harten Kern» bewahren. «Es geht darum, wofür sie steht: das Bekenntnis zum humanitären Recht und zu den Menschenrechten, den Schutz der Zivilbevölkerung, den Schutz der Genfer Konventionen», so Berset.
Das sei wichtiger denn je, auch wenn sich die Neutralität anpassen müsse. «Wir müssen uns fragen, wo wir als Land, wo Europa in fünf, zehn, dreissig Jahren steht. Alles, was wir heute beschliessen, muss sich daran messen», sagte Berset im Interview mit der «NZZ am Sonntag». «Und im Fokus muss die Frage stehen: Was können wir tun, um die Zivilbevölkerung in der Ukraine zu schützen?»
Die Schweiz engagiere sich stark und habe sehr rasch präzedenzlose Sanktionen übernommen. Dazu kämen die Bemühungen in der Ukraine selbst, beispielsweise im Bereich der Entminung. Dereinst werde es zudem Verhandlungen mit Russland geben müssen, so Berset. «Wir versuchen, überall dort präsent zu sein, wo wir einen Beitrag zu Mediation und Frieden leisten können.»
«Kriegsrausch in gewissen Kreisen» bereitet ihm Sorgen
In stürmischen Zeiten brauche es eine Besinnung auf das Fundament. «Und nun ist da bei einigen plötzlich keine Linie mehr. Das finde ich erstaunlich», so der Bundespräsident. Neutralität bedeute nicht Gleichgültigkeit. Er warne aber vor einer Stimmung wie vor dem Ersten Weltkrieg. «Ich spüre auch heute diesen Kriegsrausch in gewissen Kreisen. Und darüber bin ich sehr besorgt», so Berset. «Denn dieses Gefühl beruht auf einer kurzfristigen Sicht.»
Die Haltung des Bundesrats sei klar: «Schweizer Waffen dürfen nicht in Kriegen zum Einsatz kommen.» Nach der grossen Debatte zwischen 2017 und 2019 zu dieser Frage sei jetzt Stabilität gefragt, sagte der Bundespräsident. «Das aktuelle Kriegsmaterialgesetz ist das Resultat eines langen Prozesses.» Die Schweiz sei eine verlässliche Partnerin, ihre Position werde «in der Regel» gut verstanden.
«Ich verstehe und respektiere, dass andere Länder eine andere Haltung haben. Aber die Schweizer Position muss ebenfalls respektiert werden», so Berset. «Jetzt einfach zu sagen, die Situation sei eine andere, die Schweiz müsse jetzt ohne Rücksicht auf die Gesetzesgrundlage alles ändern, das geht nicht.»
Kritik an Deutschland
Die Behauptung des französischen Botschafters, die Schweiz gefährde die Selbstverteidigung Europas, wies der Bundespräsident zurück: «Zu behaupten, die Selbstverteidigung Europas hänge von der Wiederausfuhr von Waffen aus der Schweiz ab, und zu verlangen, dass wir unser geltendes Recht missachten, dünkt mich nicht angemessen. Gerade weil wir neutral sind und keine Weitergabe von Waffen in Kriegsgebiete erlauben, können wir sehr viel leisten für diesen Kontinent.»
Auch das deutsche Vorgehen kritisierte Berset: «Es fällt auf, dass das deutsche Gesuch um Wiederausfuhr just dann an die Schweiz gerichtet wurde, als die Diskussion innerhalb Deutschlands in Bezug auf die Weitergabe von eigenen Waffen feststeckte.»
Unter einer Aufgabe der Neutralität würden laut Berset zudem der Standort Genf und damit die Schweiz leiden. «Manchmal habe ich schon den Eindruck, dass wir uns in der Schweiz der zentralen Bedeutung von Genf zu wenig bewusst sind.» (kes/SDA)
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