Interlaken, der hübsche Touristenort zwischen dem Thuner- und Brienzersee mit den vielen Asiaten und den reichen Arabern, hat nicht nur Sonnenseiten. An der Schiffländte hinter dem Bahnhof West treffen sich regelmässig Leute, die auch die Schattenseiten des Lebens kennen: Die Drogenabhänigen von Interlaken. Nebst der Sucht machen ihnen auch die Behörden das Leben schwer: Seit Jahren werden sie von ihren Treffpunkten vertrieben – zum Beispiel mit Gittern oder abmontierten Sitzbänken.
Vor einigen Wochen kam es gar zu einer Polizeirazzia. Gefunden wurden jedoch nur Kleinstmengen Heroin und Cannabis, wie die Polizei später meldete.
«Das ist doch Schikane», sagt Eva (39). Die Abhängige weiss, dass die Dealer nur kleinere Mengen für die Finanzierung ihres Eigenkonsums verkauften. «Jetzt erwarten sie hohe Bussen im vierstelligen Bereich – sie beziehen aber nur Sozialhilfe.» Auch Marco (52) meint: «Die Polizeirazzia war ein Verhältnisblödsinn. Die jungen Polizisten aus Bern wollen halt üben.»
«Hier spritzt keiner offen»
Zu allem Übel wurde die Szene in der Presse nach der Razzia als «Platzspitz von Interlaken» bezeichnet. «Lächerlich!», empört sich Eva (39). «Bei uns herrschen niemals gleiche Verhältnisse wie damals am Platzspitz. Hier spritzt keiner offen. Es wird vielleicht mal ein Joint oder eine Pfeife geraucht, aber sonst sitzen wir einfach zusammen, trinken Bier und reden.» Fabrizio (47) ergänzt: «Wir sind wie eine Familie und können über unsere Probleme sprechen.»
Sie ärgern sich auch über das Hin- und Herschieben – die rund 20-köpfige Szene muss sich immer neue Treffpunkte suchen. Marco erzählt: «Die Gemeinde hat uns an mehreren Orten vertrieben, weil einige von uns Probleme machten. Es gab schwarze Schafe, die Leute anpöbelten.» Zwar hätten «die Leute vom harten Kern» eingegriffen – aber nicht immer erfolgreich.
«Doch die meisten von uns sind sehr anständig – wie ich», sagt Marco. «Und jene Personen, die oft Stress gemacht haben, sind weg.»
Süchtige wollen einen Platz, wo sie vor Regen geschützt sind
Doch an der Schiffländte gefällt es den wenigsten. «Wir brauchen einen Ort, wo wir am ‹Schärmä› sind», sagt Eva. Zudem möchte sie einen Platz, wo sie nicht schräg angeschaut und von den Touristen begafft werde. «Es passt einfach nicht ins Bild von Interlaken, dass es hier Drogensüchtige gibt. Anwohner wollten bei einem alten Treffpunkt mal einen Sichtschutz montieren, um uns nicht sehen zu müssen. Als wären wir Tiere! Aber auch an der Schiffländte ist es nicht besser. Wir dürfen nicht in der Nähe der Anlegestelle sein, wo die Touristen aussteigen.»
Freundin Verena (63) ergänzt: «Sie wollen keine Süchtigen, denn Interlaken ist ja etwas Besonderes. Dabei sind das auch Menschen!»
Der Gemeinde machen die Frauen grosse Vorwürfe: «Sie versprechen viel, aber tun nichts.» Bei einem alten Platz an der Aare hinter dem Bahnhof Ost, wo sie sich früher trafen, wurde gar ihr Holzhäuschen abgebrochen, weil es ein paar Zentimeter zu hoch war und es ein Problem mit der Uferschutzzone gab. Verena: «Dabei war es so schön dort, die Anwohner haben uns Essen gebracht und wir konnten grillieren.» Am liebsten hätten alle wieder einen Ort mit Dach, Grill und WC. Marco: «Dann könnte sich jeder um einen Bereich kümmern.»
Gassenarbeiterin: «Hier finden sie ein Zugehörigkeitsgefühl»
Gassenarbeiterin Julia Nievergelt (34) von der Sozialarbeit Contact Mobil sagt, der aktuelle Platz sei keine ideale Lösung, aber das sei den Behörden bewusst. Die Gruppe in Interlaken sei sehr stabil und anständig und es gebe ein hohes Bewusstsein dafür, dass man sich nicht mit Jugendlichen vermischen wolle und Probleme mit Lärm, Littering und der Polizei verhindern möchte.
An der Schiffländte treffe man Süchtige aus der Region, die der Einsamkeit entfliehen wollen, weiss die Gassenarbeiterin. «Sie haben kein soziales Umfeld von einem Job und die Beiz könnten sie sich nicht leisten. Aber hier finden sie ein Zugehörigkeitsgefühl.»
Platzsuche ist Dauerthema, aber nicht einfach
Gemeinderat Nils Fuchs (23, FDP) vom Ressort Soziales weist den Vorwurf, dass Interlaken zu wenig tue, entschieden zurück. «Wir finanzieren Contact Mobil und säubern regelmässig die Treffpunkte. Die Platzsuche ist bei uns zudem ein Dauerthema, aber sehr komplex.» Die meisten Randständigen würden nicht aus der Gemeinde Interlaken stammen, weshalb eine überkommunale Lösung gesucht werde.
Zudem sagt Fuchs: «Unregelmässige Kontrollen der Polizei bestätigen, dass neben Alkohol sämtliche Arten von Drogen, aber auch rezeptpflichtige Medikamente, vor Ort gehandelt und konsumiert werden.» Dadurch könnten besonders junge Personen «relativ einfach mit harten Drogen in Kontakt kommen». Die Hauptgründe für Interventionen der Polizei seien Ruhestörungen am Abend, körperliche Auseinandersetzungen untereinander oder Provokationen gegenüber Dritten.
Auch die Kantonspolizei äussert sich zu den Vorwürfen bezüglich der Razzia. «Eine solche Aktion gehört zum Grundauftrag der Polizei, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten und Straftaten zu verfolgen», so Polizeisprecherin Magdalena Rast. «Sie muss nicht durch eine bestimmte Menge an sichergestellten Betäubungsmitteln legitimiert werden.»