Darum gehts
«Hend ers pressant?», ruft Gisella Nünlist hinter der Theke hervor. Sie müsse noch den Geschirrspüler ausräumen. Das Restaurant Balmhorn in Mitholz BE folgt seinem eigenen Rhythmus: Geschäftigkeit in der Küche, gemächliche Ruhe im Säli – zumindest nach dem Mittag. Einige Gäste kurbeln die Verdauung mit Apfelschnaps an, einer schlurft an den Stammtisch. Dort serviert ihm die Wirtin ungefragt ein warmes Menü.
Draussen vor dem «Balmhorn» donnert der Verkehr vorbei, die Trottoirs sind leer gefegt. Viele Mitholzer haben ihre Heimat verlassen oder stehen kurz davor: Ab 2033 wird das alte Munitionslager oberhalb des Dorfs geräumt, die Vorbereitungen sind im Gang. Alle Zeichen stehen auf Aufbruch.
Als Amtsträgerin muss sie in der Gemeinde wohnen
Uns hat es im Januar wieder ins Berner Oberland verschlagen, wo wir für eine Beobachter-Serie Menschen beim Weggehen und Ankommen begleiten.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Nur beim Beizerpaar Nünlist geht es ums Bleiben. Obwohl das Restaurant mitten im Dorf steht – und damit im Sicherheitsperimeter, den die 51 Bewohner spätestens Ende 2026 verlassen sollen. «Ich würde am liebsten bleiben», hatte uns Gisella Nünlist im letzten Juni erzählt.
Nur wenige Monate später fand sie einen Weg, sich wie ein Widerhaken im Kandertal zu verankern: Sie wurde Gemeinderätin – mit gerade mal neun Stimmen. Als Amtsträgerin muss sie in der Gemeinde wohnen, wenn auch ausserhalb der gefährlichsten Zone.
«Also, was wollt ihr wissen?», fragt Nünlist und wischt die feuchten Hände an der Hose trocken. Zunächst das Offensichtliche: Warum? «Eigentlich wollte ich ja Gemeinderatspräsidentin werden», sagt sie. Spitzbübisches Lächeln. Es verrät: Da steckte etwas Kalkül dahinter.
Blicken wir zurück: Im Herbst suchte die Gemeinde Kandergrund ein neues Oberhaupt. Gisella Nünlist fühlte sich nicht berufen, aber zumindest angesprochen. «Etwas muss ich ja machen!», so die 72-Jährige. Bald gehe Ehemann Dänu in Pension, dann sei es mit dem Wirten vorbei. «Wer über 30 Jahre in der Gastro arbeitet, kann nicht plötzlich auf der faulen Haut liegen.» Mit Politik habe sie zwar noch nichts am Hut gehabt, aber sie interessiere sich allemal. Wieso also nicht?
Fürs Präsidium reichte es nicht
Kurzerhand trommelte sie unter den «Balmhorn»-Gästen fünf Unterstützer zusammen, mehr waren nicht nötig. Tage darauf präsentierte sie in einer voll besetzten Turnhalle ihr Programm mit Schwerpunkt Mitholz. Ihre Gegner fürs Präsidium: zwei amtierende Gemeinderäte. Ihre Situation: chancenlos. Den Grund lieferte sie an der Versammlung gleich selbst: «Ich glaube, die meisten hier kennen mich gar nicht.»
Was sich nach Koketterie anhört, ist nur ehrlich: Gisella Nünlist ist ein ruhiger Mensch, der nicht gern im Mittelpunkt steht. Im Restaurant bedient sie Gäste aufmerksam, aber nie aufdringlich. Schwatzt kurz mit, zieht aber weiter, sobald die Arbeit ruft.
Der Plan ging auf. Fürs Präsidium reichte es Nünlist mit neun Stimmen erwartungsgemäss nicht. Sehr wohl aber für den Trostpreis – den einen Sitz, den der Ortsteil Mitholz im fünfköpfigen Gemeinderat von Kandergrund auf sicher hat. Dass Gisella Nünlist die einzige Kandidatin war: geschenkt. Nun ist sie für vier Jahre im Amt. Und denkt bereits darüber nach, in die Verlängerung zu gehen.
Politisch stehe sie der SVP nahe, sagt sie dem Beobachter. Nun will sie im Ort, der sich in seiner bisherigen Form gerade auflöst, Gräben schliessen. Seit bekannt ist, dass Mitholz geräumt werden muss, bröckelt der Zusammenhalt unter den Leuten. «Obwohl wir ja alle im selben Boot sitzen.» Das Motto ist für Nünlist klar: «Es braucht hier mee Mitenand.» Die Dorfbeiz ist dafür kein schlechter Ort.
Keine Angst, aber Respekt
«Bonjour!» Im Eingang des «Balmhorn» fragt ein Fremder nach einer Reservation. Nünlist springt auf: «Oui, oui, c’est possible!» Als kurz darauf ein asiatisches Paar einkehrt, holt sie zwei Speisekarten und switcht in ihr eigenes Englisch: «Will you both?» Nettes Lächeln. Sie sei ein heiterer Mensch, sagt sie, zurück am Tisch. «Ämel bis mer öpper uf d Füess tschalpet.»
Im neu gewählten Gemeinderat sei das bisher nicht geschehen. Nünlists Ressort: Bau, Landwirtschaft, Forst – keine leichte Aufgabe. «Ich wurde gefragt, welches Ämtli ich mir wünsche», sagt sie und zuckt mit den Schultern. «Isch mir doch gliich! Einarbeiten muss ich mich überall.» Mit Ordnern voll Infomaterial, mit «Herrn Google», mit der Hilfe der Ratskollegen. Angst habe sie nicht, Respekt aber schon. «Ich will meine Aufgabe gut machen.»
Kann sie das?
Ob sie das kann – davon sind nicht alle überzeugt. Im Dorf werden Fragen aufgeworfen, wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand: Kann die Wirtin so was? Und: Was will eine Auswärtige im Gemeinderat?
Gisella Nünlist wuchs im Kanton Solothurn auf und ist gelernte Coiffeuse. Heute greife sie nicht mehr zur Schere: «Man siehts ja», lacht sie, die weissen Haare im losen Rossschwanz. In den 1980ern heiratete sie Wirt Dänu, wurde Mutter, half im Restaurant. Erst in Wiedlisbach BE, dann in Derendingen SO, seit 2017 in Mitholz. Nach acht Jahren habe sie sich eingelebt, «eini vo hie» sei sie aber nicht.
Als Dorfpolitikerin habe das Vor- und Nachteile: «Ich habe einen frischen Blick und bin nicht mit den Leuten verhängt. ‹Söihäfeli – Söideckeli›, das passiert mir nicht.» Dafür traue man ihr weniger zu. Ihrem Optimismus tut das keinen Abbruch. «Ig bin, wien i bin! Und was ich nicht kann, das lerne ich.»
Erste Schritte im Amt
Am Nachmittag nippen die Gäste noch immer am Schnaps, der Wirt hat sich dazugesellt. Vor dem Fenster fahren Autos und Lastwagen rüber ins Wallis, hinunter an den Thunersee. Oder zur Baustelle vor dem vermaledeiten Munitionslager.
Das Thema, das in Mitholz über allem steht, holt Gemeinderätin Nünlist schon wenige Tage nach Amtsantritt ein. Die Medien berichten über eine neue Risikoanalyse. Sie besagt, dass die Gefahr einer Explosion der Munitionsrückstände kleiner sei als angenommen.
Alles übertrieben mit der erzwungenen Umsiedlung? Neopolitikerin Nünlist will sich nicht auf die Äste wagen. «Da muss ich mich zuerst schlaumachen», sagt sie. Ganz getreu ihrem Motto, mit dem sie im Herbst die Bühne betreten hat: «Reden, hören, handeln.»