Patrick Betschart erhielt Krebsdiagnose als Kind
«Die IV hat mich ins Verderben gestürzt»

Für Versicherungen sind sie ein Risiko, fürs Militär untauglich – aber für die IV oft kein klarer Fall: Menschen, die als Kind Krebs hatten, kämpfen als Erwachsene an vielen Fronten weiter
Publiziert: 14.03.2025 um 13:01 Uhr
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Aktualisiert: 14.03.2025 um 14:25 Uhr
«Das IV-System ist menschenunwürdig»: Christian Chervet war mit 15 an Lymphdrüsenkrebs erkrankt. (Symbolbild)
Foto: Keystone

Darum gehts

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Conny Schmid
Beobachter

Als Patrick Betschart das Aufgebot für die Militär-Aushebung bekam, freute er sich. Bei der Rekrutierung gab er sein Bestes und schnitt in allen Tests gut ab. Doch dann erklärten ihn die Militärärzte für untauglich. «Ich konnte es nicht glauben», sagt er. «Die Ärzte sagten, sie würden mich gerne nehmen, aber sie dürften nicht, weil ich als Kind Krebs hatte.»

Betschart, der eigentlich anders heisst, erkrankte mit drei Jahren an Leukämie. Mit sechs erlitt er einen Rückfall und wurde wochenlang hinter Glas isoliert. Er erinnert sich an die anderen Kinder auf der Station – auch an diejenigen, die starben. Bilder, die sich in sein Gedächtnis brannten.

Gesund, aber untauglich

Betschart überlebte, doch die Behandlung schädigte seine Schilddrüse. Er wurde nur 1,57 Meter gross und kann keine Kinder zeugen.

Trotzdem fühlt er sich fit. 21 Jahre alt ist er heute, arbeitet als Fachangestellter Gesundheit und ist bei der Freiwilligen Feuerwehr. «Ich führe ein normales Leben wie viele andere», sagt er.

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Der Entscheid der Militärärzte hätte nicht nur bedeutet, dass er nicht in die Armee aufgenommen wird. Er müsste auch jedes Jahr rund 450 Franken Wehrpflichtersatz bezahlen. «Ich finde das unfair. Ich habe mir die Leukämie nicht ausgesucht.»

Die Armee bestreitet einen Automatismus. Jeder Fall werde einzeln beurteilt, gemäss der «Nosologia Militaris», heisst es auf Anfrage.

Dieses als intern klassifizierte Reglement beschreibt alle Diagnosen und medizinischen Gegebenheiten mit Auswirkungen auf die Tauglichkeit oder Untauglichkeit.

Es gehe darum, Selbst- und Fremdgefährdung zu vermeiden, sagt ein Armeesprecher. «Die Rahmenbedingungen im Militär sind körperlich und mental sehr herausfordernd. Wir haben eine Fürsorgepflicht.»

Patrick Betschart sieht nicht ein, warum er eine Gefahr sein soll. Er hat Rekurs eingelegt. «Ich bin doch nicht weniger wert, nur weil ich als Kind Krebs hatte.»

Kein Einzelfall

Laut der Organisation Kinderkrebs Schweiz ist Patrick Betschart kein Ausnahmefall. «Dieses Problem haben viele männliche Kinderkrebs-Überlebende», sagt Präsident Nicolas von der Weid, der am Basler Universitäts-Kinderspital die Abteilung Onkologie/Hämatologie leitet.

Und die Sache mit dem Militär ist nur eine von vielen Formen von Benachteiligungen, mit denen Betroffene kämpfen.

Vor allem Versicherungen legten ihnen Steine in den Weg. «Entweder gelten sie als Risiko, weil sie Krebs hatten, oder es werden ihnen Leistungen verweigert, weil sie geheilt sind», sagt Nicolas von der Weid.

Bei Versicherungen benachteiligt

Viele können bei der Krankenkasse keine Zusatzversicherung abschliessen oder nur zu schlechteren Konditionen, auch wenn sie gesund und beschwerdefrei sind.

Sie müssen höhere Prämien bezahlen oder Vorbehalte in Kauf nehmen. Auch Lebensversicherungen sind zurückhaltend. Der Krebs könnte zurückkehren, Spätfolgen könnten auftreten.

Rechtlich ist daran nichts auszusetzen. Es gilt die Vertragsfreiheit. Keine private Versicherung ist verpflichtet, jeden aufzunehmen. Das Risiko müssten sonst alle mittragen – über höhere Prämien, wie bei der Grundversicherung der Krankenkasse.

Für Menschen mit überstandener Krebserkrankung bedeutet diese Freiheit eine Benachteiligung. Sie müssen über Zusatzversicherungen gedeckte alternative Therapien selbst bezahlen.

Falls sie schon zusatzversichert sind, können sie nicht zu einer günstigeren Versicherung wechseln. Sie können ihre Familie nicht gleich gut über Lebensversicherungen absichern oder damit Alterskapital aufbauen.

Ohne Lebensversicherung als Sicherheit haben sie bei Banken schlechtere Chancen für einen Kredit oder eine Hypothek.

Tausende Betroffene

Wie sehr dies belastet, zeigt eine Studie der Universität Luzern. Forschende haben 28 Betroffene zu ihren Bedürfnissen befragt. Die meisten berichteten von Problemen mit Versicherungen.

Katharina Roser vom Forschungsteam überraschte dies: «Wir hatten das gar nicht auf dem Schirm, sondern dachten eher an medizinische, psychosoziale oder arbeitsbezogene Belastungen.»

Derzeit leben in der Schweiz etwa 7000 Menschen, die eine Krebserkrankung im Kindesalter überstanden haben. Dank des medizinischen Fortschritts nimmt ihre Zahl zu.

Pro Jahr erkranken rund 350 Kinder neu an Krebs, ihre Überlebenschancen liegen aktuell bei über 85 Prozent.

Vorbehalte von Versicherungen betreffen aber auch Menschen, die erst als Erwachsene erkrankt waren. Insgesamt leben in der Schweiz rund 450’000 Krebsüberlebende.

Im Ausland gibts das Recht auf Vergessen

Viele europäische Länder haben in den letzten Jahren ein «Recht auf Vergessen» eingeführt: Je nach Regelung dürfen Versicherungen nicht mehr nach Krebserkrankungen fragen, die länger als fünf bis zehn Jahre zurückliegen.

Kinderkrebs Schweiz fordert das Gleiche hierzulande. «Man kann schon sagen, bei privaten Versicherungen muss jeder das Risiko selbst berappen, aber es ist unfair. Andere Länder haben das Problem erkannt», sagt Nicolas von der Weid, Präsident von Kinderkrebs Schweiz.

Neben denjenigen, die beschwerdefrei leben und trotzdem als Risiko gelten, gibt es auch viele Kinderkrebs-Überlebende, die unter Spätfolgen leiden.

Krebstherapien sind meist nicht auf Kinderkörper angepasst. Das führt oft zu Organschäden, etwa am Herzen oder an der Schilddrüse. Auch Unfruchtbarkeit, Zahnprobleme, chronische Erschöpfung und Konzentrationsstörungen sind verbreitet.

Stress mit der IV

Diese Betroffenen haben erst recht keine Chance bei privaten Versicherungen. Und gleichzeitig müssen sie oft darum kämpfen, dass Krankenkassen oder die IV ihre Beschwerden anerkennen.

«Viele reduzieren ihr Arbeitspensum und beantragen erst dann IV-Leistungen, wenn es gar nicht mehr geht», sagt Nicolas von der Weid. Für die IV gelte die erste Reduktion dann als freiwillig.

In der Luzerner Studie bezeichneten die Befragten das IV-Prozedere als herausfordernd und stressig.

Ein «Hochleistungsmensch», immer Vollgas

Auch Christian Chervet leidet darunter. Der 55-jährige Chiropraktiker aus Neuenburg sagt: «Die IV hat mich ins Verderben gestürzt.» Chervet war mit 15 an Lymphdrüsenkrebs erkrankt.

Er überstand alle Therapien gut, gründete eine Familie mit sechs Kindern und machte sich selbständig. Er bezeichnet sich als «Hochleistungsmenschen»; arbeitete zwölf Stunden am Tag, trieb unzählige Sportarten, teilweise auf Leistungsniveau, war in Vereinen und Berufsverbänden engagiert. Immer Vollgas.

Rente seit sieben Jahren in Abklärung

Bis ihm vor acht Jahren «der Pfuus ausging», wie er sagt. Es stellte sich heraus: Sein Herz pumpte nicht mehr genügend Blut. Herzinsuffizienz ist eine typische Spätfolge nach Lymphdrüsenkrebs.

Doch damit nicht genug: Im selben Jahr entdeckten die Ärzte bei ihm Hodenkrebs. Chervets Geschichte wiederholte sich, diesmal aber steckte er die Therapien nicht so leicht weg. Sie führten zu chronischer Erschöpfung. 2018 meldete er sich bei der IV an.

Sein Gesuch ist bis heute hängig. Allein bis alle Arztberichte vorlagen, dauerte es über zwei Jahre.

Lange Zeit schaffte der Chiropraktiker es, seine Praxis über Wasser zu halten. Chervet stellte Assistenten und Kolleginnen ein, arbeitete nur noch an drei Tagen jeweils wenige Stunden und legte mehrmals täglich Powernaps ein. Er fuhr weiterhin mit dem E-Bike zur Arbeit als Teil seiner Therapie.

Dieser Kampfgeist wurde ihm zum Verhängnis. 2020 gab die IV ein Gutachten in Auftrag. Die Ärzte, die Chervet untersuchten, verglichen ihn mit einem Durchschnittsmenschen seines Alters.

Dass Chervet vorher Überdurchschnittliches leistete und jetzt nur noch ein Schatten seiner selbst war, verkannten sie. Sie stellten eine Leistungsminderung von 15 Prozent fest. «Ein Hohn», sagt Chervet.

Die ganze Familie leidet

Die IV lehnte eine Rente ab, Chervet legte Einsprache ein. Sein Zustand verschlechterte sich weiter. 2021 wurde in der Wirbelsäule ein neuer Tumor gefunden.

Er führte zu bleibenden Lähmungserscheinungen im Bein. Eine notwendige Rückenmark-Operation machte alles schlimmer.

Die finanziellen Sorgen und seine Unfähigkeit, die alten Leistungen abzurufen, stürzten Chervet in eine Krise. «Ich habe daran gedacht, meinem Leben ein Ende zu setzen», sagt er.

Er musste Kredite aufnehmen, das Haus und beide Autos verkaufen, um über die Runden zu kommen. «Meine Kinder arbeiten neben der Ausbildung in mehreren Jobs, teils auch nachts, weil sie mich nicht belasten wollen. Dabei erschöpfen sie sich selbst.»

Aus dem gleichen Grund würden sie sich auch mit ihren Problemen nicht mehr an ihn wenden. «Das bricht mir das Herz.» Im August musste er seine Praxis schliessen.

Die IV will noch ein Gutachten

Seine behandelnden Ärzte reichen der IV regelmässig Berichte ein. Sie lassen keinen Zweifel, dass Chervet komplett arbeitsunfähig ist.

Sein Dossier umfasst über 1500 Seiten. Und es wird noch dicker: 2022 ordnete die IV ein neues Gutachten an. Dies sei zwingend notwendig, um den IV-Grad bestimmen zu können, heisst es auf Anfrage.

Seit über zwei Jahren wartet Chervet nun auf die Vorladung. Laut der IV gibt es zu wenig Gutachterstellen, deshalb komme es zu langen Wartezeiten, man habe darauf keinen Einfluss. Chervet sagt: «Dieses System ist menschenunwürdig.»

Für ihn ist klar: Es gibt kein Happy End. «Ich habe alles verloren.»

Für Patrick Betschart, der von der Armee für untauglich befunden worden war, nahm die Geschichte eine gute Wendung: Sein Rekurs wurde gutgeheissen.

Er ist inzwischen Wachtmeister. «Offenbar bin ich doch ganz brauchbar, obwohl ich als Kind Krebs hatte», sagt er.


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