Der Spitze Stein ist gar keiner mehr. Der Felsbrocken auf dem Gipfel, der dem Berg ob dem Oeschinensee im Kanton Bern seinen Namen gab, ist längst nach unten gekullert und in tausend Stücke zersprungen. Doch an Steinen, welche die Bergflanke hinabstürzen, ist weiterhin kein Mangel. Denn der Spitze Stein ist ständig in Bewegung.
Die Kandersteger unten im Tal sind sich bröckelnde Berge gewohnt. «Wir leben damit, dass immer mal etwas runterkommt», sagt Gemeinderatspräsident René-François Maeder (69) in seinem Waldhotel Doldenhorn am Dorfrand. Und doch ist nicht alles so wie früher: «Die Rutschung am Spitzen Stein gab es schon immer – aber wegen des Klimawandels geht es jetzt viel schneller», sagt Hotelier Maeder.
Weil sich das Rutschen beschleunigt, hat die Gemeinde Teile des Gebiets um den Oeschinensee und bis ins Tal breitflächig abgesperrt. Gefahr droht dem Dorf nicht durch den Bergsturz an sich, sondern von einer Schlammlawine, die sich den Berg hinunterwälzen könnte. Dass das schlimmste Szenario eintrifft, ist laut Experten aber eher unwahrscheinlich; zudem wird der Berg durch modernste Messgeräte genauestens überwacht.
Sichtbarer Klimawandel
Kandersteg spürt den Klimawandel also direkt. Was sagen die Bewohner dazu – und was zur Abstimmung über das Klimaschutzgesetz am 18. Juni? Im Dorf ist eine gewisse Skepsis zu spüren.
Der bekannteste Kandersteger, alt Bundesrat Adolf Ogi (80), sagt: «Es ist nicht sicher, ob die Rutschung etwas mit dem Klimawandel zu tun hat.» Wahrscheinlich spiele der tauende Permafrost schon eine Rolle, aber man höre ja allerhand.
Er habe schon als kleiner Bub diesen Berg «uechi gugget», erzählt Ogi: «Dass da etwas runterkommt, ist nicht neu.» Die Kandersteger seien bedächtige, ruhige Leute. «Wir hatten Lawinen, wir hatten Überschwemmungen – bevor man vom Klimawandel sprach.» Man müsse aufhören, den Leuten Angst zu machen, sonst entvölkere sich das Dorf noch ganz. «In Kandersteg hat man alles gemacht, um eine Katastrophe zu verhindern. Wir leben hier nicht in Angst!»
Sicher ist sich der SVP-Politiker in einem Punkt: «Der Klimawandel ist kein Thema, das die Leute im Dorf täglich beschäftigt.» Zur Abstimmung über das Klimaschutzgesetz will sich der frühere Verkehrsminister nicht weiter äussern: «Meine Partei ist dagegen, Herr Bundesrat Rösti ist dafür», sagt er nur. Und: Er gehe davon aus, dass es knapp werde.
Die Vorlage will den Ersatz von fossilen Heizungen mit zwei Milliarden Franken fördern und das Land bis 2050 auf netto null Emissionen bringen.
Ob sie das Gesetz ablehnt oder annimmt, will auch Sonja Reichen (62) nicht verraten. Die Leiterin des Tourismus-Centers kann von ihrem Büro im Dorfzentrum den Spitzen Stein erspähen. «Der Klimawandel findet statt, das ist klar», sagt Reichen. Aber: «Diesen Winter gab es wenig Schnee, doch die zwei Winter zuvor hatten wir super Verhältnisse.»
Möglicherweise ist die Erderwärmung nur einer der Gründe für das Bröckeln des Bergs. Nils Hählen (47), Leiter Abteilung Naturgefahren des Kantons Bern, sagt: «Die Natur ist komplex. So grosse Bewegungen wie beim Spitzen Stein haben nie eine einzelne Ursache.» Damit es zu einer Rutschung komme, müssten die geologischen Voraussetzungen gegeben sein. Zum Beispiel eine Gleitfläche.
Schon immer in Bewegung
Am Spitzen Stein bewegt sich der Berg seit dem Ende der letzten Eiszeit. «Was wir derzeit aber feststellen, ist eine Beschleunigung der Rutschung. Mit ein Grund dafür ist das Schmelzen des Permafrosts – und da besteht ein klarer Zusammenhang zum Klimawandel.»
In anderen Worten: Der Klimawandel ist einer der Faktoren, der zur schnelleren Rutschung beiträgt. Ob es der einzige ist, wissen die Geologen nicht.
Einer, der den Spitzen Stein kennt wie wenige andere, ist Fritz Loretan (73): Experte für Naturgefahren, Bergführer und jahrelanger SAC-Hüttenwart. Er begleitet SonntagsBlick hoch zum Oeschinensee und zeigt von der gegenüberliegenden Talseite, wie der Spitze Stein mit neuster Messtechnik überwacht und jede Bewegung registriert wird.
Als Naturgefahrenexperte ist der Kandersteger weiterhin für die Gemeinde im Einsatz – etwa, wenn die Kameras mal wieder vom Schnee befreit werden müssen. Den Klimawandel sieht Loretan gelassen. «Die Kandersteger nehmen ihn nicht so tragisch», meint er. «Sie sagen: ‹Das hatten wir früher auch.›» Und er fügt grinsend an: «Auch wenn natürlich vor 1000 Jahren keiner von ihnen gelebt hat.»
Aufhalten lasse sich das alles ohnehin nicht, meint er, dazu lebten zu viele Menschen auf der Erde. Ausserdem hält der Bergführer keine grossen Stücke auf die Abstimmung: «Es kommt gar nicht so darauf an, ob das Volk Ja oder Nein stimmt. Es wird ohnehin nicht so umgesetzt, wie es die Politiker jetzt sagen.»
Loretan tippt auf ein Nein am 18. Juni – ganz anders als Gemeinderatspräsident René-François Maeder. Der glaubt, dass die Kandersteger dem Klimaschutzgesetz knapp zustimmen werden. «Sicher, das Gesetz ist nicht perfekt», sagt er. «Aber es wäre unverantwortlich gegenüber unseren Grosskindern, nichts zu tun.» Zudem neige sich das Zeitalter der fossilen Energien dem Ende zu. «Wir müssen also sowieso auf erneuerbare Energien umsteigen.»
Kandersteger ticken anders
Maeder ist noch aus einem anderen Grund zuversichtlich: In den letzten Jahren habe Kandersteg meist abgestimmt wie die Schweiz – im Gegensatz zu den umliegenden, konservativeren Gemeinden. «Als Durchgangsort haben wir eine sehr durchmischte Bevölkerung, das sorgt für einen gewissen Liberalismus.»
So nahm Kandersteg beispielsweise die «Ehe für alle» mit 55 Prozent an – während im benachbarten Adelboden BE 70 Prozent ein Nein einlegten. Doch ist Kandersteg zugleich die Heimat zweier SVP-Bundesräte: Neben Adolf Ogi stammt auch Albert Rösti (55) von hier.
Ein verhältnismässig progressives Dorf in einer konservativen Umgebung: Was überwiegt da? Wenn, wie Umfragen vermuten lassen, die Abstimmung knapp ausfällt, könnte es auch in Kandersteg knapp werden.
Sicher ist nur: Der Spitze Stein rutscht weiterhin. Ganz egal, wie sich die Kandersteger entscheiden.