Es ist eine Gratwanderung zwischen Leben und Tod, die Livia Kunz (26) auf der Intensivpflegestation IPS im Spital Thun jeden Tag miterlebt. «Im schlimmsten Fall droht bei einem Patienten ein Herzstillstand», sagt die angehende Expertin Intensivpflege bei der Vorbesprechung mit ihrer Berufsbildnerin Claudia Steffen (39), von der sie an diesem Tag begleitet wird. «Da nützt der Defibrillator nichts, wir müssten eine Herzdruckmassage machen.»
Währenddessen piepst und blinkt es überall, ein Alarm geht los: Die junge Thunerin lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Seit März arbeitet sie nun schon auf der Intensivstation im Spital Thun, seit Mai absolviert sie ein zweijähriges Nachdiplomstudium in Intensivpflege. Kunz bringt bereits einige Jahre Berufserfahrung als diplomierte Pflegefachfrau mit; nun hat sie sich entschieden, sich weiterzubilden.
Corona-Patient in kritischem Zustand
Beim Besuch vom Blick wird sie von Claudia Steffen begleitet, Expertin Intensivpflege und Berufsbildnerin. Kunz hat sich für diesen sogenannten klinischen Unterricht eine komplexe Patientensituation ausgesucht, wie sie erklärt: «Der Mann leidet an Covid und ist in kritischem Zustand. Wir müssen ihn gleich drehen.»
Das grosse Umziehen beginnt: Die Haare werden unter einer violetten Haube versteckt, die normale durch eine FFP2-Maske ausgetauscht und eine Schutzbrille aufgesetzt. Ein gelber Kittel aus plastifiziertem Stoff sowie Plastikhandschuhe machen das Outfit komplett. Der Patient liegt auf dem Bauch, er ist an eine Beatmungsmaschine angeschlossen. Auffällig ist, dass er nur mit einem Tuch zugedeckt ist.
Vier Angestellte drehen den Kranken — ein Kraftakt!
In der Schutzkleidung ist es unheimlich warm, durch die dicke Maske und mit der Schutzbrille kriegt man nur wenig Luft. «Es ist wie in der Sauna», meint Steffen schmunzelnd, die an die Bedingungen gewöhnt ist. Nicht so die Reporterin von Blick, die Mühe mit dem Schutzanzug hat: Schon nach kurzer Zeit kündigt sich ein Kreislaufzusammenbruch an. Die Pflegerinnen helfen mit Traubenzucker und Wasser.
Kunz und Steffen bestreiten in dieser Montur ihren Arbeitsalltag hingegen mühelos. Für die Umlagerung des Patienten von der seitlichen Bauch- in die Rückenlage kommen zusätzlich zwei Ärzte und eine weitere Pflegende herbei. «Er kriegt ein Medikament, damit er seine Muskeln nicht anspannen kann», erklärt die Studierende. Aufgrund dessen sei das Drehen ein wahrer Kraftakt und man müsse gut aufpassen, dass die vielen Schläuche das Manöver unbeschädigt überstehen.
Pflege ist nicht gleich Pflege
Danach geht es ins Nebenzimmer zu einem anderen Patienten für eine weitere begleitete Lernsituation. Der Mann erhält nach einer Operation noch Schlaf- und Schmerzmedikamente. «Wir müssen sein Beatmungsgerät kontrollieren», erklärt Kunz.
Die angehende Intensivpflegerin hat ursprünglich Fachfrau Gesundheit gelernt und danach die höhere Fachschule zur diplomierten Pflegefachfrau gemacht Trotz dieser Erfahrung gibt es in der Ausbildung zur Expertin Intensivpflege für sie aber sehr viel zu lernen: «Es ist wie ein komplett neuer Job.» Claudia Steffen pflichtet ihr bei: «Das ist ein ganz anderes Arbeiten hier bei uns als auf der normalen Station.»
Anforderungen aufgrund Fachkräftemangel angepasst
Sie macht ein Beispiel: «Wir verabreichen die Medikamente meistens über eine Spritzenpumpe.» Ausserhalb der IPS würden beispielsweise eher Tabletten oder Kurzinfusionen eingesetzt. Dies sei in der Anwendung ein sehr grosser Unterschied. «Bei manchen Medikamenten müssen wir beispielsweise enorm darauf schauen, dass sie ohne Unterbruch ausgewechselt werden. Ansonsten könnte der Blutdruck des Patienten direkt absacken», so die Berufsbildnerin. Dies könne lebensgefährlich sein. Daher könne auch eine ausgebildete Pflegekraft nicht so einfach rasch auf der IPS aushelfen kommen.
Die Weiterbildung zur Expertin Intensivpflege sei anspruchsvoll und verlange den Studierenden viel ab. Als Grundausbildung wird ein Pflegediplom an der höheren Fachschule oder einer Fachhochschule sowie mindestens sechs Monate Berufserfahrung in der Akutpflege vorausgesetzt. Noch vor einigen Jahren wurden zwei Jahre Berufserfahrung verlangt. Doch aufgrund des Fachkräftemangels wurde der nationale Rahmenlehrplan von der Dachorganisation «Oda Santé» angepasst, um einen früheren Einstieg zu ermöglichen. Kunz selbst hat fast drei Jahre Erfahrung und ist froh über die solide Grundlage: «So kann mich wirklich aufs Neue konzentrieren.»
Kunz liebt ihren Job
Am Krankenbett angekommen begrüsst sie den sedierten Mann freundlich – auch wenn dieser das wohl nicht mitbekommt. Mit dem Stethoskop hört sie seine Brust ab und bespricht ihre Beobachtungen mit Berufsbildnerin Steffen. Nachdem auch sämtliche Schläuche und Kabel kontrolliert sind, ist der Antritts-Check abgeschlossen und es geht zurück zum Covid-Patienten.
«Wir haben hier zwar weniger Patienten als auf der normalen Station, dafür brauchen sie viel mehr Betreuung», so Kunz. Doch die Arbeit macht ihr sichtlich Spass. Sie scheint ihre Berufung gefunden zu haben — trotz hoher Arbeitsbelastung. Sie meint: «Ich würde mich immer wieder für diesen Weg entscheiden. Es ist sehr spannend und erfüllend.»