Im Februar 2020 vergewaltigten zwei Männer eine Frau (33) in der Basler Elsässerstrasse. Letzte Woche wurde das Urteil vom Appellationsgericht gegen den Portugiesen João P.* (32), den älteren der beiden Täter, reduziert: neu drei Jahre Freiheitsstrafe, die Hälfte davon bedingt.
Die Erklärung von Gerichtspräsidentin Liselotte Henz: Die «Signale, die das Opfer auf Männer aussendet», würden das Vergehen relativieren. Dies berichtete die «bz Basel». Damit gemeint sei das «Verhalten im Club», dass das Opfer an den Tag gelegt habe. Konkret: Die Frau soll vor der Tat auf einem Disko-WC sexuelle Handlungen mit einem anderen Mann gehabt haben. «Man muss feststellen, dass sie mit dem Feuer spielt», zitiert die Zeitung Henz.
Übergriffe seien relativ kurz gewesen
Überdies seien die Übergriffe auf das Opfer relativ kurz gewesen. Und: Zu bleibenden physischen Verletzungen hätte es bei der Frau nicht geführt.
Nun meldet sich das Opfer zu Wort. Sie wandte sich mit einer Nachricht an Opferberaterin Agota Lavoyer, die wiederum die Zeilen in den Sozialen Medien veröffentlichte. «Ich habe mich nach dem Urteil gefragt, ob ich jetzt wirklich mitschuldig an der Vergewaltigung bin», lauten die Worte des Opfers. Sie sei richtig enttäuscht über das Urteil – «hoffe aber trotzdem, dass sich andere Frauen, denen auch so etwas zugestossen ist, sich getrauen, eine Anzeige zu machen!»
Opfer kann es nicht fassen
Auch gegenüber Blick äussert sich das Opfer. Sie lässt via ihre Anwältin Miriam Riegger verkünden, dass sie froh sei und war, dass der Täter auch von der zweiten Instanz verurteilt worden ist.
Das Opfer lässt aber verlauten: «Was mir vom Gericht vorgeworfen wird, also dass ich angeblich eine Mitschuld an der schrecklichen Tat tragen soll, schockiert mich zutiefst.» Sie könne es nicht fassen. «Es ist für mich völlig unverständlich, wie ein Gericht, eine Richterin, also sogar eine Frau, so etwas sagen kann», so das Opfer. «Ich frage mich wirklich, wie die Richterin zu so einer Einschätzung kommt.»
Opfer wegen Begründung für Zukunft besorgt
Das Opfer macht sich wegen dieser Begründung auch für die Zukunft grosse Sorgen und hat Angst, dass wenn man als Frau nur mal einen kürzeren Rock oder einen etwas weiteren Ausschnitt trage, man immer das Gefühl haben müsste, man könnte etwas provoziert haben.
Auch Anwalts-Legende Valentin Landmann (71) ist empört. Er kenne den Fall nur aus der Presse, sagt er zu Blick. Aber: «Es gibt Äusserungen der Gerichtspräsidentin, die in der Presse zitiert wurde, wo ich mich schon frage: Wenn die so gefallen sind, befinden wir uns da in einem Minenfeld.»
Anwalt Landmann: «Argumentation von Islamisten»
Er wählt klare Worte: «Da sind wir schon fast bei der Argumentation von Islamisten: ‹Wäre sie doch nur verhüllt rumgelaufen, dann hätte es keine Vergewaltigung gegeben.›» Diese Argumentation widerspreche absolut unserer Rechtsauffassung vom Schutz der Frau, sagt Landmann. «An unseren Gerichten hat eine islamistische Argumentation nichts zu suchen. Eine Frau darf so sexy auftreten, wie sie will. Sie wird damit vor dem Schweizerischen Recht nicht zum Freiwild!»
Ein sexy Auftreten und Aussenden von aufreizenden Signalen sei kein Grund für eine Urteilsminderung. Ausser es werde klar, dass ein gegenseitiges Einverständnis vorliege. «Aber dann ist es keine Vergewaltigung.»
Den extremsten Vergleich, den man aus den Aussagen der Gerichtspräsidentin ziehen könne, sei jener zur Prostituierten, sagt Landmann. «Diese gibt und kleidet sich ja auch aufreizend. Es gibt aber keinerlei Freibrief für einen Übergriff auf sie.»
Anwältin Delnon: Frau kein «Selbstbedienungsladen»
Die Zürcher Anwältin Vera Delnon schlägt in die gleiche Kerbe. «Dass eine Frau sich auf einen Mann einlässt, heisst nie, dass sie für jeden anderen ein Selbstbedienungsladen wäre.»
Selbst wenn eine Vergewaltigung oder andere Sexualdelikte relativ kurz andauern würden und keine bleibenden körperlichen Verletzungen nach sich ziehen würden, so blieben es schwerwiegende Straftaten, sagt Delnon. «Dies gilt umso mehr, wenn das Opfer allein und gleich zwei Angreifern ausgeliefert ist und Flucht oder Gegenwehr nicht in Frage kommen.»
Anwalt Joset: «Wurde Urteilsbegründung richtig verstanden?»
Der Basler Strafverteidiger Alain Joset (48) fragt sich, ob die mündliche Urteilsbegründung der Gerichtspräsidentin, die in den Medien zu lesen war, wirklich richtig verstanden wurde. «Dass ein Gericht Signale, die das Opfer vor der Tat ausgesendet hat, bei der Bemessung des Verschuldens des Täters mitberücksichtigt, ist weder aussergewöhnlich noch skandalös», sagt der Anwalt. «Ein solches Vorgehen ist üblich und korrekt. Wie bei jeder Straftat ist auch bei einer Vergewaltigung für die Bemessung der Strafe mitentscheidend, wie der Täter die Situation interpretiert hat.»
Bei der Festlegung der korrekten Strafe müsse das Gericht das Verschulden des Täters bemessen und dabei sämtliche Tatumstände würdigen, sagt Joset. «Dazu gehört bei Sexualdelikten auch das Verhalten des Opfers und die Dauer des Delikts.»
Das Basler Appellationsgericht sagt auf Blick-Anfrage, dass Gerichtspräsidentin Liselotte Henz in diesem konkreten Fall keine Auskunft erteile.
Betreffend Weiterzug des Urteils sagt Opferanwältin Riegger, sie werde zunächst das schriftliche Urteil abwarten und dann entscheiden.
Die schriftliche Urteilsbegründung steht noch aus.
Korrektur: In einer ersten Version dieses Artikels stand, das Opfer habe vor der Tat «ungeschützten Sex» auf einem Disko-WC gehabt. Dies ist falsch. Es kam laut der Anwältin des Opfers zu «sexuellen Handlungen».
* Name geändert